Eugene. Die Frauen-Sprintstaffel hat die erste Medaille für Deutschland bei der WM geholt. Bronze gab es für Pinto, Lückenkemper & Co.

Für einen kurzen Moment war Tatjana Pinto verwirrt. Als die Medaillen bei der Siegerehrung vergeben waren, zog die US-Amerikanerin Twanisha Terry die Deutsche fürs gemeinsame Siegerfoto auf die höchste Stufe des Siegerpodests. So balancierte Pinto mit einen Fuß auf dem erhöhten Treppchen. Rechts die Amerikanerin, links Teamkollegin Alexandra Burghardt im Arm. Doch irgendwie passte Tatjana Pintos Schritt nach oben perfekt zu diesem Moment: Die deutsche Frauenstaffel über 4x100 Meter hatte am vorletzten Abend der WM in Eugene/Oregon Bronze geholt, doch das deutsche Team war gefühlt ganz oben. Bronze fühlte sich für Deutschland an wie Gold.

Und wie eine Goldmedaille wurde der dritte Platz auch gefeiert. Ungläubig hatte Schlussläuferin Rebekka Haase eine gefühlte Ewigkeit ins Leere gestarrt nach dem Zieleinlauf. Sie brauchte lange, um die zurückliegenden 42,03 Sekunden zu verarbeiten. Den guten Start von Tatjana Pinto, deren perfekte Übergabe an Alexandra Burghardt, die wiederum Gina Lückenkemper weiterschickte. Deutschlands Schnellste presste den gelben Stab nach ihrem beherzten Kurvenlauf in die Hand von Rebecca Haase. „Lauf“, schrie die Soesterin ihrer Teamkollegin noch hinterher, voller Adrenalin wild auf und ab hüpfend. Und Haase lief. Sie lief sich die Seele aus dem Leib, schepperte die Bahn mit entschlossenem Blick entlang, kam hinter der Jamaikanerin Shericka Jackson (Gesamtzeit 41,18 Sekunden) und der siegreichen Amerikanerin Twanisha Terry (41,14) ins Ziel. Sonst war wirklich keiner dazwischen? Lückenkemper kam ins Ziel und schüttelte die noch immer ungläubige Haase. Ja, Bronze! Die erste WM-Medaille für eine deutsche Frauenstaffel seit Bronze bei der WM in Berlin 2009. Die erste Medaille überhaupt bei dieser bisher aus deutscher Sicht so tristen WM im Nordwesten der USA.

Sonst Gegnerinnen auf der Bahn, in der Staffel eine Einheit

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Seit sieben Jahren besteht die Frauenstaffel meist aus diesem Quartett. Aus Gina Lückenkemper (25), Deutschlands nicht gerade auf den Mund gefallenen Vorzeigesprinterin vom SCC Berlin. Aus der 30-jährigen Tatjana Pinto vom TV Wattenscheid. Aus Alexandra Burghardt (28) vom SV Wacker Burghausen, die bei den vergangenen Winterspielen in Peking Olympiasilber als Anschieberin im Zweierbob holte. Und aus der eher ruhigen Rebekka Haase (29) vom Sprintteam Wetzlar. Immer wieder begegnen sie sich bei Deutschen Meisterschaften und internationalen Wettkämpfen als Gegnerinnen auf den Bahnen, doch wenn die Staffeln auf dem Programm stehen, wachsen sie zu einer Einheit zusammen.

Seit sieben Jahren geht das nun schon so. In dieser Zeit holten Deutschlands fantastische Vier zweimal EM-Bronze. Aber eine Medaille bei einer Weltmeisterschaft mit Teilnehmern wie den Sprintnationen USA und Jamaika? „Ich wusste, dass eine Medaille im Bereich des Möglichen lag“, sagte Gina Lückenkemper über ihre Gedanken beim Warmmachen. „Ich war mental voll auf Bronze vorbereitet. Schon auf der Bahn“, sagte Tatjana Pinto über ihr Gefühl unmittelbar vor dem Startschuss. Fokussiert waren sie, und voller Selbstvertrauen nach dem erfolgreichen Vorlauf am Tag zuvor. In 42,44 Sekunden hatten sie sich als Vorlaufdritte direkt fürs Finale qualifiziert. Schon da meinte Rebekka Haase: „Wir haben unser erstes Ziel erreicht, jetzt heißt es Vollgas.“

"Der Ruck, den wir gebraucht haben"

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Sie gaben Vollgas – und dem DLV neue Hoffnung vor dem abschließenden Wettkampftag. „Die Medaille ist eine Sensation. Das ist der Ruck, den wir gebraucht haben“, sagte Jürgen Kessing, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV). Denn die beiden zurückliegenden Tage hatten das Halbfinal-Aus der 800-Meter-Läuferinnen Christina Hering und Majtie Kolberg sowie das frühe Scheitern von Annika Marie Fuchs im Speerwurf-Finale gesehen. Dazu den unglücklichen vierten Platz von Speerwurf-Hoffnung Julian Weber und das Ausscheiden der Männer-Sprintstaffel. Für das Quartett Kevin Kranz, Joshua Hartmann, Owen Ansah und Lucs Ansah-Peprah - als Jahresschnellste nach Eugene gekommen - war mehr drin als der finale elfte Platz. Doch die erste Stabübergabe von Kranz auf Hartmann misslang, Hartmann musste abbremsen und dann erneut beschleunigen. Den Rückstand konnten die beiden Hamburger Ansah und Ansah-Peprah trotz starker Leistung nicht mehr aufholen. „Das ist scheiße gelaufen, das war einfach schlecht“, sagte Kranz.

Dabei waren es die Männer und nicht die Frauen, denen eigentlich die WM-Medaille zugetraut wurde. Dass die USA und Topfavorit Jamaika den Sieg unter sich ausmachen würden, schien in Stein gemeißelt. Dahinter war aber Großbritannien um Ex-Weltmeisterin Dinah Asher-Smith der erste Bronzekandidat - doch Asher-Smith verletzte sich an Position drei, die Britinnen kamen nur als Sechste ins Ziel. Die Tür war offen für die Deutschen - und sie stürmten hindurch. „Keine von uns hätte alleine eine Medaille geholt“, sagte Gina Lückenkemper. „Das ist ein Erfolg, den wir nur zusammen erreichen konnten.“