Regierung: Geschichtliche Aufarbeitung noch nicht beendet. Scharfe Kritik an Birthler-Behörde. “Übermäßig mit Ruhm bekleckert hat sich da eigentlich niemand.“

BERLN. Knapp 18 Jahre nach dem Mauerfall befasst sich die Justiz wieder mit den Todesschüssen an der innerdeutschen Grenze. Anlass ist das Auftauchen eines Stasi-Schießbefehls zur rücksichtslosen Liquidierung von Flüchtlingen. Die Berliner Staatsanwaltschaft kündigte gestern, am 46. Jahrestag des Mauerbaus, an, sie prüfe, ob neue Ermittlungen eingeleitet werden müssten, sie juristische Schritte unternimmt. Die Bundesregierung kündigte unterdessen an, die Aufarbeitung der DDR-Geschichte weiter "mit erheblichen Mitteln" zu unterstützen. Der Schießbefehl zeige, dass die politisch-historische Rückschau keinesfalls schon beendet werden könne, sagte Regierungssprecher Thomas Steg.

Das Dokument stammt aus der Magdeburger Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde. In der von 1973 stammenden Dienstanweisung für Mitglieder einer an der Grenze eingesetzten Stasi-Spezialtruppe wird befohlen, unverzüglich auf Flüchtlinge zu schießen, vor allem auf Frauen und Kinder.

Die Berliner Staatsanwaltschaft will jetzt klären, wer der Verfasser und wer Adressat des Papiers ist. Es sei auch die Frage, wie das Papier verteilt und ob der Schießbefehl ausgeführt worden sei. Der Staatsanwaltschaft sei ein Dokument in dieser Form bislang nicht bekannt, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft.

Die strafrechtliche Aufarbeitung der Todesschüsse auf Flüchtlinge gilt nach dutzenden Mauerschützen-Prozessen und der Verurteilung des früheren DDR-Staatschefs Egon Krenz eigentlich seit Jahren als abgeschlossen.

Die Bundesbeauftragte für die Stasi-Akten, Marianne Birthler, geriet in die Kritik, weil sie den Schießbefehl als neu bezeichnet hatte, obwohl er 1997 in einem Fachbuch ihres Hauses publiziert worden war. Der Unions-Fraktionsvize und ehemalige DDR-Bürgerrechtler Arnold Vaatz sagte im NDR: "Übermäßig mit Ruhm bekleckert hat sich da eigentlich niemand." Die Behörde hätte schon vor zehn Jahren die Brisanz des Papiers erkennen müssen. Der Historiker Konrad Jarausch sprach im RBB von einer "fatalen Skandalisierung", wenn bekannte Dokumente als "Aufregendes, Neues" dargestellt würden.

Die Beauftragte für die Stasi-Akten, Marianne Birthler, sagte der "Berliner Zeitung", sie ärgere sich im Nachhinein über ihre eigene Äußerung, nehme dem Dokument allerdings "nichts von seinem brutalen Inhalt". Birthler zeigte sich am Rande der Berliner Gedenkfeier für die Opfer an der deutsch-deutschen Grenze verärgert, dass die "Verfahrensfrage" die inhaltliche Diskussion überlagere.

Egon Krenz bestritt unterdessen einen Schießbefehl. "Es hat einen Tötungsbefehl, oder wie Sie es nennen "Schießbefehl", nicht gegeben", sagte er der "Bild"-Zeitung. "Das weiß ich aus eigenem Erleben." Krenz war wegen der Toten an der Mauer als Schreibtischtäter zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Die Linke relativierte den Schießbefehl. Linke-Geschäftsführer Dietmar Bartsch sagte, das Dokument widerspreche den Gesetzen der DDR und hätte zu strafrechtlichen Konsequenzen geführt. Außerdem stamme das Papier aus "einer untergeordneten Behörde ohne Kopfbogen und ohne Unterschrift".

Bodo Ramelow, Vize-Fraktionschef der Linken im Bundestag, kritisierte in der "Thüringer Allgemeinen", dass die Behörde der Öffentlichkeit längst bekannte Dokumente als vermeintliche, sensationelle Geheimakten präsentiere, um ihre Arbeit zu rechtfertigen.

Die DDR hatte am 13. August 1961 die Grenze zu West-Berlin abgeriegelt und damit die deutsche Teilung besiegelt. Die Zahl getöteter DDR-Flüchtlinge liegt laut dem Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung zwischen 270 und 780.