Kiew. Russische Truppen stehen vor der Ukraine. In Kiew ist es fast unnatürlich friedlich. Doch viele bereiten sich auf eine Eskalation vor.

Anfang Februar schlittern und schlingern die Menschen durch Kiew­. Die goldenen Kuppeln der Sophienkathedrale streuen so viel Licht über die Stadt, dass es wie Verschwendung wirkt. Als könnte morgen alles zu Ende sein. „Bestes Panzerwetter“, sagen Militärs. Vor Monaten schon nannten US-Geheimdienste den Februar als „idealen“ Zeitpunkt für eine russische Invasion in der Ukraine. Weil dann die gefrorenen Felder und Wege für Kampfpanzer so gut befahrbar sind.

Etwa 110.000 Soldaten hat die russische Armee rund um die Ukraine zusammengezogen. Präsident Wladimir Putin könnte jederzeit den Marschbefehl erteilen. Noch allerdings wird verhandelt.

Der französische Staatschef Emmanuel Macron ist auf dem Sprung nach Moskau. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock kommt an diesem Montag nach Kiew. Sie will auch an die Front im Donbass reisen, wo schon seit acht Jahren ein Krieg tobt, mit 14.000 Toten. Lesen Sie auch: Ukraine-Krise: Wie der uneinige Westen Wladimir Putin stärkt

Mission Landesverteidigung: In allen großen Städten der Ukraine werden Reservisten von Soldaten im Umgang mit Waffen geschult.
Mission Landesverteidigung: In allen großen Städten der Ukraine werden Reservisten von Soldaten im Umgang mit Waffen geschult. © action press | SOPA Images/SIPA

In der Hauptstadt dagegen ist es fast unnatürlich friedlich. Unweit der Sophienkathedrale gibt es einen kleinen Markt, auf dem die Händler Honig verkaufen, Tee und Granatäpfel. Durch ein Tor gelangt man in einen Hof. Dort steht Andriy Postnikow und bläst Rauch in die frostige Luft. Er ist der Mann, der erklären soll, was wäre, wenn.

„Wir haben lange nicht verstanden, dass wir auf das Äußerste vorbereitet sein müssen“, sagt er, schon drinnen beim Kaffee. Postnikow ist Katastrophenhelfer bei der ukrainischen Caritas. Er erstellt Einsatzpläne für den Ernstfall. Noch vor einem halben Jahr hieß das: Eine weitere Eskalation im Donbass ist jederzeit möglich, vielleicht auch eine russische Offensive im Süden, bei Mariupol.

2000 Rettungskräfte bereiten sich auf den Ernstfall vor

Aber ein Generalangriff auf die Ukraine? Kiew, die Wiege der ostslawischen Christenheit, unter russischem Panzerbeschuss? Der 39-Jährige schüttelt den Kopf und breitet die Arme aus. Das will sich Postnikow nicht vorstellen. Aber er muss. Damit die 2000 Rettungskräfte, die er koordiniert, bereit sind „für Blut, Gewalt und Tod“.

Im Donbass, sagt Postnikow, kennen sie das alles schon. Deswegen sei die Schulung für die Notfallteams aus dem Osten meist leichter. In Kiew und weiter im Westen verdrängen viele die Gefahr. „Es kann nicht sein, was nicht sein darf: Oft ist das eine unbewusste Haltung. Dabei ist Bewusstsein alles, wenn du das Schlimmste verhindern willst.“ Auch interessant: Riskiert Putin einen langen Krieg?

Postnikow lacht. Ihm dämmert, dass er und seine Leute das Schlimmste gar nicht verhindern können: den Krieg selbst. „Leider liegt das nicht in unserer Macht.“ Das Lachen weicht einem Stöhnen. „Wir können erst handeln, wenn uns die Militärs das Okay geben.“

Dann immerhin stehen Ärztinnen und Psychologen, technische Einsatzkräfte und Hunderte Freiwillige bereit, um Erste Hilfe zu leisten und die Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten zu sichern. „Aber wenn es wirklich zu einem großen Krieg kommt, können wir das nicht schaffen“, gibt Postnikow zu und stöhnt noch einmal.

An der Donbass-Front wird weniger geschossen

Wie kommt er, der Familienvater, selbst mit all den düsteren Szenarien klar? „Ich bin fokussiert.“ Keine Angst? Nein, er schlafe gut. Keine Albträume? „Vielleicht arbeite ich zu viel, um mir Sorgen zu machen.“ Nun lacht er wieder, wohl nur eine andere Form des Stöhnens.

Postnikow stammt aus dem Gebiet Luhansk, das seit 2014 in der Gewalt kremltreuer Separatisten ist. Kommt daher seine Motivation, zu helfen? Er sei kein Vertriebener, stellt er klar. Schon 2013, ein Jahr vor Beginn des Krieges, zog er nach Westen. Ein Bruder lebt noch im Separatistengebiet. Auch interessant: Ukraine-Krise: Was Scholz in Washington erreichen will

Seit die russische Armee nahezu die gesamte Ukraine eingekreist hat, wird an der Donbass-Front weniger geschossen. „Niemand möchte beschuldigt werden, einen Krieg provoziert zu haben“, erklärt Postnikow. Das heiße aber nicht, dass die Lage entspannt sei. Im Gegenteil. „Es ist wohl eher die Ruhe vor dem Sturm.“

Es droht Krieg – doch Violeta malt sich etwas anderes aus

Solch unheilvolle Gedanken lässt Violeta Artemchuk nicht zu. „Niemand kann derzeit seriös vorhersagen, ob es einen großen Krieg geben wird“, erklärt die 50-Jährige, die seit 2014 für die Organisation Donbass SOS im Einsatz ist. Meist am Telefon, denn oft bereiten Fragen des alltäglichen Lebens den Hilfesuchenden die größten Probleme. Rund 120 Anrufe am Tag gehen bei der Hotline ein. Von Geflüchteten, aber auch von Menschen, die noch im Donbass leben. Lesen Sie hier: Wie russische Medien über die Helmlieferung aus Deutschland berichten

In den selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, in denen die Separatisten das Sagen haben und der Kreml die Fäden zieht. Aber auch Kiew hält an seinen Ansprüchen fest, und weil Renten, Sozialleistungen und die Krankenversicherung vom Status abhängen, gibt es extrem viel Gesprächsbedarf.

In diesem Februar, in dem die halbe Welt von einem drohenden Krieg in der Ukraine spricht, malt sich Artemchuk ein ganz anderes Szenario aus. „Wenn Frieden herrscht und die Menschen in Donezk und Luhansk wieder frei sind, fahre ich hin, und wir feiern zusammen“, sagt sie. Eine Hoffnung, die sich auch an die Hilfe aus dem Ausland knüpft. Donbass SOS könnte ohne westliche Unterstützung kaum erfolgreich arbeiten. „Dafür sind wir dankbar“, sagt Artemchuk.

Auch sie stöhnt immer wieder, genau wie Andriy Postnikow. Es wirkt bei beiden, als wollten sie mit großer Kraftanstrengung diese Last zur Seite schieben, die auf den Seelen der meisten Menschen in der Ukraine liegt.