Brüssel. Die EU holen Versäumnisse in der Migrationspolitik ein. Nun muss sie entschlossen handeln – notfalls mit Sanktionen gegen Russland.

Das hätte Europa nicht passieren dürfen. Die EU ist von der Zuspitzung der Flüchtlingskrise kalt erwischt worden, obwohl schon lange absehbar war, dass sich etwas zusammenbraut an der Südostflanke Europas. Die EU-Grenzschutztruppe Frontex sagt seit einem Jahr eine neue Flüchtlingswelle aus Richtung Syrien voraus. Der türkische Präsident Erdogan lässt seit vielen Monaten keinen Zweifel, dass er eine weitere Million Flüchtlinge nicht aufnehmen kann; immer wieder forderte er mehr Unterstützung und drohte mit der Öffnung der Grenzen zur EU.

Doch das vereinte Europa hat der Entwicklung weitgehend tatenlos zugesehen und darauf gebaut, der Flüchtlingsdeal mit Ankara werde schon vor Ungemach bewahren. Jetzt blickt man erschrocken auf den sich ausbreitenden Brandherd vor der Haustür. Dass aus diesem Desaster für die europäische Außenpolitik auch eine neue Flüchtlingswelle in die EU folgt, ist allerdings nicht gesagt.

Denn der Eindruck, Brüssel habe nichts gelernt aus der Krise 2015, ist falsch. Vieles ist seitdem Stückwerk geblieben in der Migrationspolitik, die Einigung auf ein neues Asylsystem ist gescheitert. Aber vor allem der Grenzschutz – in der EU und an den Außengrenzen – funktioniert jetzt viel besser als damals. Die Bereitschaft, sich darauf zu verlassen und eine Politik der Abschottung zu verfolgen, ist zugleich massiv gestiegen.

Selbst die Bundesregierung sendet nun harsche Töne in Richtung der Migranten in der Türkei. Die EU duldete es stillschweigend, wenn Griechenland die Menschen mit Tränengas zurücktreibt und das Asylrecht außer Kraft setzt – nichts fürchtet man auf dem Kontinent mehr, als dass Athen die Nerven verliert und die Flüchtlinge passieren lässt.

EU muss notfalls mit Sanktionen gegen Russland reagieren

Europa-Korrespondent Christian Kerl kommentiert die neue Zuspitzung der Flüchtlingskrise.
Europa-Korrespondent Christian Kerl kommentiert die neue Zuspitzung der Flüchtlingskrise.

Die griechisch-türkische Grenze zur eisern befestigten Brandmauer auszubauen, mag politisch erst mal die richtige Antwort sein auf das zynische Kalkül Erdogans: Der benutzt die Migranten als Spielball, um einerseits Europa zu erpressen und andererseits innenpolitisch von seinem militärischen Desaster im Norden Syriens abzulenken. Aber der mit Gewalt durchgesetzte Grenzschutz kann allenfalls für ein paar Tage eine Notlösung sein, bis ein Ausweg organisiert ist; alles andere wäre eine Bankrotterklärung der EU. So groß der Ärger über Erdogan jetzt sein mag, an einer Verständigung mit ihm führt kein Weg vorbei. Die EU muss das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei ganz schnell neu auflegen.

Ankaras Forderung nach weiteren europäischen Hilfen für die Millionen Flüchtlinge im Land ist berechtigt, nur darf Erdogan nicht glauben, er könne die Bedingungen dafür diktieren. Nach Lage der Dinge hat auch er ein Interesse an einer schnellen Einigung mit der EU, nachdem sich der russische Präsident als unzuverlässiger Bündnispartner erwiesen hat, der in der Region vor allem eigene Ziele verfolgt. Man kann Erdogan für seine strategische Fehlkalkulation in Syrien kritisieren. Aber sein Hilferuf, Europa müsse sich in dieser Krise mehr engagieren, lässt sich nicht einfach ignorieren.

Der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei

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    Nicht militärisches Eingreifen Europas in Syrien ist aktuell gefragt, aber entschlossenes politisches Handeln. Den Schlüssel für eine Lösung hält Putin in der Hand. Er muss zurück an den Verhandlungstisch gezwungen werden, er darf einem Waffenstillstand und einer Lösung für die Flüchtlinge in Nordsyrien nicht länger im Weg stehen.

    Bevor Putin weiter Öl ins Feuer gießt und eine neue Flüchtlingskrise in der EU provoziert, muss die EU geschlossen den Druck erhöhen – notfalls auch mit Sanktionen gegen Russland.