Genac. Gut die Hälfte der Franzosen lebt auf dem Land. Das macht die Präsidentschaftswahl für Kandidaten und die Beobachter so interessant.

„Natürlich bin ich enttäuscht von François Fillon “, knurrt Georges Troyat und rührt in seiner Espresso-Tasse. Der 62-Jährige Weinbauer lehnt am Tresen des Cafés „Bar le Commerce“ direkt gegenüber dem kleinen Rathaus von Genac. Troyat hat bei den Vorwahlen der konservativen Republikaner-Partei für Fillon gestimmt und war entschlossen, dem Ex-Premier auch bei den Präsidentschaftswahlen seine Stimme zu geben.

Doch dann kam „Penelopegate“. Fillons Ehefrau Penelope hat möglicherweise jahrelang Gehälter zwischen drei- und siebentausend Euro monatlich als parlamentarische Assistentin erhalten, ohne diesen Job wirklich auszuüben.

Fillon bleibt das kleinere Übel

„Ich hab ihn für einen integren Mann gehalten und genau für den Politiker, den Frankreich derzeit an seiner Spitze braucht“, sagt Troyat. Was Fillons Integrität betrifft, hat Troyat mittlerweile seine Zweifel. Aber er will ihn „höchstwahrscheinlich“ dennoch wählen, weil er weder Marine Le Pen, die Kandidatin des rechtsextremen Front National (FN) noch „einen dieser Frischlinge“ (gemeint sind der parteilose, 39 Jahre junge Bewerber Emmanuel Macron sowie der 49-jährige sozialistische Spitzenkandidat Benoît Hamon) als eine glaubwürdige Alternative anzusehen vermag.

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    So wie Troyat denken in Genac vielleicht nicht alle, aber viele. Die 723-Seelen-Gemeinde, die im südwestlichen Departement Charente auf halbem Wege zwischen den Kleinstädten Angoulême und Cognac liegt, verkörpert beinahe idealtypisch „la douce France“, das „liebliche“ und traditionsverbundene Frankreich.

    Mehr als die Hälfte der Franzosen lebt in der Provinz

    Eingebettet in eine sanft geschwungene Hügellandschaft, durch deren Felder und Weinberge breit die Charente fließt, haben Leben wie Politik einen ungleich bedächtigeren Rhythmus als im beständig aufgeregten Paris. Genac, das ist jene tiefe und konservative Provinz, in der bis heute deutlich mehr als die Hälfte aller Franzosen leben; jene Provinz, aus der auch François Fillon stammt und wo dessen Stammwählerschaft sitzt.

    Vor Penelopegate galt Fillon als haushoher Favorit der Präsidentschaftswahlen. Dass er sich zuvor im Kampf um die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner als Saubermann inszenierte, zahlen ihm die Medien nun täglich mit Spott und Häme heim. Doch wer ein wenig Zeit im einzigen Café von Genac verbringt, dem wird rasch klar, dass Fillon der Lebenswelt der Menschen hier immer noch sehr viel näher steht als etwa der smarte Ex-Banker Macron oder der linke Utopist Hamon, der mit seinem bedingungslosen Grundgehalt für alle „sämtlichen Nichtsnutzen des Landes ein sorgenfreies Leben bescheren will“. So jedenfalls sieht das Yvonne Legarde, die leicht ergraute Bedienung in der Bar de Commerce.

    Auf dem Land lässt es sich mit wenig besser leben

    „Ehrliches Geld für ehrliche Arbeit, ein anderes Rezept gibt es nicht“, stimmt Dorfklempner Didier Duberteau zu. Widerspruch regt sich keiner, obwohl die Arbeitslosigkeit in Genac mit knapp zehn Prozent genauso hoch liegt wie im Landesschnitt. Aber es stimmt: In der Provinz lässt es sich von der Stütze allemal besser leben als im Großraum Paris.

    Und es stimmt auch, dass hier die meisten Menschen ein eher vernünftiges Auskommen haben. Mehr als ein Drittel leben von der Landwirtschaft und bauen auf den kalkreichen Böden der Region entweder Mais an oder kultivieren die Rebsorte Ugni Blanc, aus der die Cognac-Hersteller der Region ihr edles „eau de vie“ (Lebenswasser) destillieren.

    Die Provinz lebt vom Freihandel

    Der Cognac ist es auch, der dafür sorgt, dass Marine Le Pen in Genac kaum Anhänger hat. 97 Prozent der gesamten Cognac-Produktion von rund 200 Millionen Flaschen im Jahr nämlich werden exportiert – hauptsächlich in die EU-Länder, in die USA, nach Asien und nach Russland.

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      „Ich bin doch kein Masochist“, erklärt Troyat: „Wenn Frankreich auf Le Pen hören würde, aus der EU austritt, den Freihandel einschränkt und den Franc wieder einführt, können wir hier alle dichtmachen.“

      Kriegsdenkmäler als Mahnung vor Le Pen

      Troyat, dessen dicker SUV made in Germany vor dem Café parkt, gehört zu den Leuten, auf die man in Genac hört. Er bewirtschaftet in dem benachbarten Weiler Cailletières einen 140-Hektar großen Hof. Für seine Rebenernte hat er eine Abnahmegarantie des großen Cognac-Produzenten Henessy, außerdem verkauft er (sehr gut) seinen in Eigenregie hergestellten Pineau, einen in der Charente beliebten, aus Traubenmost und Cognac bestehenden Aperitif. Doch nicht nur deswegen stößt er sich an den europafeindlichen Tönen des Front National.

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        Wie fast jedes größere Dorf in der Charente schmückt sich Genac mit einer wunderschönen romanischen Kirche. Und mit einem Kriegerdenkmal natürlich, auf dem die Namen der im Ersten und Zweiten Weltkrieg gefallenen Söhne der Gemeinde verewigt wurden. Auf dieses Denkmal weist Troyat jetzt durch das Kneipenfenster und sagt: „Da findet man gleich zwei meiner Vorfahren. Also mindestens zwei Gründe, sich an Le Pen und an dem von ihr gepredigten Crash-Kurs gegen Brüssel und Berlin zu stören.“

        In Genac ziehen die Parolen des Front National

        „Aber Le Pen hat doch recht, wenn sie Frankreich davor schützen will, von Einwanderern überrannt zu werden“, wirft der in Genac eine Autogarage betreibende Mittvierziger Pierre Andriot dazwischen. Einen Augenblick lang wird es still im Café. Es ist, als würden die Anwesenden überprüfen, ob sie für das Abzählen der ihnen persönlich bekannten Immigranten mehr als die Finger einer Hand benötigen.

        Doch dann sorgt die Gemeindesekretärin Annick Leroux für ein Auflachen, als sie fragt: „Meinst du die Engländer, Pierre?“ Tatsächlich ist die Charente ein Departement, in das sich kaum Fremde oder Immigranten verirren – wenn man von den hier schon deswegen gern gesehenen Briten absieht. Diese haben die idyllische Region schon seit drei Jahrzehnten in größerer Zahl für sich entdeckt und allein im Einzugsgebiet von Genac ein halbes Dutzend Bauernhöfe aufgekauft, um sie zu renovieren und als Ferienwohnungen zu nutzen.

        Auf der lokalen Ebene ist die gespaltene Nation nicht zu erkennen

        Heruntergebrochen auf die lokale Ebene in einem eher abgelegenen Winkel Frankreichs relativiert sich die politische Großwetterlage ganz gewaltig. Von hart aufeinanderprallenden Meinungen oder gar einer ideologisch aufgeheizten Debatte zwischen Links- und Rechtswählern kann an diesem Februartag in der Bar de Commerce jedenfalls keine Rede sein.

        Und dafür, dass sich das zuweilen ändert, gibt zumindest ein Blick auf die Kommunalpolitik wenig Anhalt. 2014 wurde in Genac Franc Pinaud zum Bürgermeister gewählt, ein parteiloser Winzer im Ruhestand. „Weil den Franc eben jeder kannte und schätzte“, kommentiert Troyat und fügt hinzu: „Es hätte aber auch seine Konkurrentin werden können, am Ende hatte sie nur acht Stimmen weniger“. Besagte Konkurrentin, die ebenfalls parteilose Odette Jourdan, ist nun erste Stellvertreterin des Bürgermeisters und im Gemeinderat stehen dem Vernehmen nach die Zeichen trotzdem auf Kooperation statt auf Konfrontation.

        In der Provinz zählt die Person mehr als das Programm

        Nein, Genac ist nicht Frankreich. Terrorbedrohung, Brexit, Trump, Globalisierung – das sind Themen, mit denen man hier keinen Hund hinter dem Ofen hervorlockt. Windräder schaffen das schon eher. Es ist geplant, fünf große Windräder auf dem Gemeindegebiet zu errichten, was von einer Hälfte der Bürger begrüßt, von der anderen entschieden abgelehnt wird.

        Aber Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit sowie die Frage, wer diese beiden Dauerprobleme am besten lösen könnte, werden die Präsidentenwahlen hier wie im übrigen Frankreich ganz wesentlich beeinflussen. Ebenso die Frage nach der Seriosität der Persönlichkeit, die in den Elysée-Palast einziehen soll.

        Le Pen liegt in Umfragen hinter Fillon und Macron

        Auch weil er wegen seines staatsmännischen Auftretens unter allen Bewerbern noch am ehesten dem den Franzosen teuren Bild eines „Vaters der Nation“ entspricht, scheint Fillon trotz Penelopegate das Rennen noch nicht verloren zu haben. In Genac zumindest. Und landesweit? Da hat diese Affäre die Rechtsextremistin Le Pen laut Umfragen in die Rolle der sicheren Siegerin des ersten Wahlgangs Ende April katapultiert. Für die entscheidende Stichwahl am 7. Mai gilt sie daher als gesetzt.

        Um den zweiten Stichwahlplatz hingegen liefern sich Fillon und Macron ein nach wie vor unentschiedenes Duell. Glaubt man den jüngsten Prognosen, würde die FN-Chefin jedoch am Ende sowohl gegen Macron (mit 42 zu 58 Prozent) als auch gegen Fillon (mit 44 zu 56 Prozent) verlieren. Ein Grund zur Entwarnung ist das freilich nicht. Zum einen, weil die französischen Meinungsforscher in den vergangenen Monaten wiederholt gründlich daneben lagen (ihnen zufolge hätte Fillon die konservativen Vorwahlen ebenso wenig gewinnen können wie Hamon die sozialistischen). Zum zweiten sind diese Spiegelungen lediglich Momentaufnahmen. In acht Wochen kann noch viel passieren.