Jerusalem. Immer mehr gut gebildete Israelis wollen auswandern – auch nach Deutschland. Sie flüchten vor dem ultrareligiösen Fanatismus im Land.

Gil Sagi lebt mit seiner Partnerin in einer der schönsten Ecken Jerusalems. Hier, am Herzlberg, riecht man den Wald, hört die Vögel zwitschern, die Luft ist klarer als in den Tälern der Stadt. "Wir wollten hier alt werden", sagt der 60-Jährige. "Jetzt ist das einfach unmöglich geworden." Er plant, ein neues Leben zu beginnen – am liebsten in Deutschland.

Sagi ist einer von vielen Israelis, die wegen der politischen Krise in Israel das Land verlassen wollen. Laut einer Umfrage im Auftrag des TV-Senders Kanal 13 überlegen 28 Prozent der Israelis, sich anderswo anzusiedeln, weitere acht Prozent sind unsicher, ob sie bleiben wollen. Alle begründen das mit dem starken Rechtsruck unter Benjamin Netanjahu. In eigenen Facebookgruppen tauschen sich Auswanderwillige darüber aus, wie man am günstigsten Bankkonten auflöst und das Geld nach Europa oder in die USA transferiert.

"Wir sind in einer wirklich schlechten Lage hier", sagt Sagi. Er meint damit nicht nur die umstrittene Justizreform, gegen die seit Monaten in ganz Israel demonstriert wird. "Alles wird immer weniger liberal, alles wird religiöser." Sagi weiß, wovon er spricht, er war selbst die längste Zeit seines Lebens religiös. Vor 15 Jahren trennte er sich von seiner Frau und "kehrte zum Fragen zurück" – so nennt man es im Hebräischen, wenn man der Religion den Rücken kehrt.

Neuanfang mit 60: Gil Sagi hofft auf Job in Deutschland

Seine Kinder leben religiös, sie haben sich in Siedlungen im Westjordanland niedergelassen. Sie und die zehn Enkelkinder in Israel zurückzulassen, falle ihm "sehr, sehr schwer", sagt Sagi. "Sie sind mein Fleisch und Blut." Er sorgt sich um die Zukunft seiner Familie in Israel. "Heute fahren am Schabbat keine Züge, okay. In ein paar Jahren aber wird man mir vielleicht verbieten, samstags mit dem Auto zu fahren?"

Aktivisten protestieren in Israel gegen die Diskriminierung von Frauen im öffentlichen Nahverkehr.
Aktivisten protestieren in Israel gegen die Diskriminierung von Frauen im öffentlichen Nahverkehr. © AFP | JACK GUEZ

Wohin es in Deutschland gehen wird, weiß Sagi noch nicht. Familiäre Wurzeln hat er nicht, seine Vorfahren stammten aus Ungarn, Polen und Litauen. Sie wanderten schon in den 1920er-Jahren nach Israel aus – "zum Glück, denn das hat ihnen das Leben gerettet". In Israel schafften sie den Aufstieg. Sagi ist Maschinenbauingenieur, rechnet aber damit, in Deutschland wieder klein anfangen zu müssen. "In meinem Alter ist es nicht ganz leicht, eine Stelle zu finden", fürchtet er.

Darüber muss sich die 45-jährige Yael I.* keine Sorgen machen. Obwohl sie nach Wien auswandern will und kein Deutsch spricht, hat sie nach einer schnellen Suche bereits ein paar Jobs gefunden, die für sie passen würden. "Als Ingenieurin mit viel Erfahrung im IT-Bereich ist das kein Problem", sagt Yael. Die Lage sei für IT-Kräfte in Europa viel besser als in Israel. "Viele meiner Bekannten in der Hightech-Branche haben in den vergangenen Monaten ihre Jobs verloren." Die politischen Entwicklungen in Israel schrecken Investoren ab, die Branche spürt das und kürzt bei den Personalkosten.

Yael muss Versprechen gegenüber der Großmutter brechen

Auch Yael hätte sich vor einem Jahr niemals vorstellen können, irgendwo anders zu leben als in Israel. Nun, da sie ihren Entschluss gefasst hat, ist sie "überhaupt nicht stolz darauf. Es fühlt sich eher wie eine Niederlage an. Wie eine schmerzvolle Trennung, die sich aber nicht vermeiden lässt." Als Aktivistin für Menschenrechte hatte sie lange gedacht, die Entwicklung, die Israel nimmt, aufhalten zu können. "Jetzt weiß ich, ich lag falsch. Rassismus ist Mainstream geworden."

In diesen Tagen denke sie sehr oft an ihre verstorbene Großmutter, die Auschwitz überlebt hat, sagt Yael. Vor jedem Gutenachtkuss habe sie ihr eingebläut, "nur ja nicht Israel zu verlassen". Nun bleibe ihr nichts anderes übrig, als dieses Versprechen zu brechen.

Israels Premier Benjamin Netanjahu dreht das Land nach rechts.
Israels Premier Benjamin Netanjahu dreht das Land nach rechts. © AFP | MENAHEM KAHANA

Für den 61-jährigen Simon Wrigley ist die geplante Ausreise nach England eine Rückkehr. Vor 33 Jahren machte er Aliyah, so nennt man es, wenn Juden aus der Diaspora nach Israel ziehen. Es war sein fester Plan, Israel nie wieder zu verlassen. "Noch vor einem Jahr hätte ich gesagt: Natürlich bleiben wir für den Rest unseres Lebens hier", erzählt Wrigley. Dann kam Netanjahus rechts-religiöse Regierung an die Macht. "Für säkulare Menschen ist das kein sicherer Ort mehr. Sie pumpen Millionen in religiöse Schulen und lassen alles andere links liegen – sogar die Holocaustüberlebenden. Das bricht einem das Herz."

„Als schwules Paar haben wir in Israel keine Zukunft“

Für Wrigley gibt es noch einen weiteren Grund, das Land zu verlassen: "Als schwules Paar haben wir hier keine Zukunft", sagt er. "Die schwulenfeindliche Hetze der Ultraorthodoxen zeigt Wirkung, das ist wirklich beängstigend." Wann die Ausreise beginnen kann, ist unklar. Es hängt auch davon ab, wann Wrigleys Partner, der nur eine israelische Staatsbürgerschaft hat, in England ein Bleiberecht erhält. Immerhin eine Sorge ist gestillt: die Frage, wovon man leben soll.

Wrigley hat sich dank Ersparnissen aus Jobs in der Hightech-Branche eine Eigentumswohnung am Rande Tel Avivs gekauft, die er dank massiv gestiegener Preise nun teurer verkaufen wird. "Mit diesem Geld findet ich locker ein Cottagehaus samt großem Grund in Westengland", lacht er. Gil Sagi, der nach Deutschland auswandern will, ist zwar finanziell weniger gut gerüstet, aber offen für neue Herausforderungen. "Vielleicht eröffnen wir eine kleine Bäckerei mit einem Cafe", sagt er.

Mit dem Deutschlernen hat Sagi bereits begonnen. Seine Auswanderpläne können nichts daran ändern, dass er "durch und durch Israeli" sei, sagt der 60-Jährige. "Ich träume auf Hebräisch, ich singe auf Hebräisch. Das kann mir niemand nehmen."

*Name geändert