Berlin. Raketenlieferungen an die Ukraine zur Verteidigung gegen Russland sind richtig – aber es fehlt an diplomatischen Ideen, meint Jörg Quoos

Und der Kanzler bewegt sich doch. Olaf Scholz hat nach seiner 100-Milliarden-Rede im Bundestag erneut Parlamentarier und Öffentlichkeit überrascht. Die Ankündigung, moderne Abwehrraketen-Systeme zu liefern, ist ein großer Schritt bei der Bewaffnung der Ukraine in diesem Krieg. Er hilft, die verwundbaren Städte zu schützen, die Russland – wie im Fall von Charkiw – mit Raketenterror überzogen hat.

Vernichtung von Leben und Wohnraum ist bislang die Taktik der Invasoren, und daher ist die Lieferung von wirksamen Abwehrwaffen längst überfällig, um die Zivilbevölkerung zu schützen.

Die deutsche Lieferpolitik hat der Ukraine nicht geholfen – und den Druck auf die Regierung erhöht

Der Kanzler hat offensichtlich erkannt, dass die bisherige Lieferpolitik weder den Ukrainern in akuter militärischer Not geholfen noch den Druck von der Bundesregierung genommen hat. Erst lächerliche 5000 Helme für eine 300.000-Mann-Armee, dann verschimmelte NVA-Panzerfäuste, ausgemusterte Gepard-Panzer ohne Munition sowie sieben Haubitzen. Das war peinlich wenig gemessen an den großen Worten, die aus Deutschland bislang zu hören waren.

Jörg Quoos, Chefredakteur der Funke Zentralredaktion Berlin.
Jörg Quoos, Chefredakteur der Funke Zentralredaktion Berlin. © Dirk Bruniecki

So sinnvoll die Lieferung der Abwehrwaffen auch ist – den Krieg beenden werden auch diese Raketen nicht. Sie können das Blatt im besten Fall etwas zugunsten der Überfallenen wenden – aber dann?

Russland und die Ukraine sind kampfesmüde

Alle Welt spürt, dass es Zeit ist für eine diplomatische Initiative, jenseits des Kiew-Tourismus und der absurden Telefonate mit Wladimir Putin, die ihre Fernsprechgebühren nicht wert sind. Scholz hat in Davos das Bild einer multipolaren Welt gemalt, mit einer neuen Außenpolitik und einem neuen Miteinander jenseits der alten Blöcke. Dafür muss erst mal dieser blutige Krieg enden oder wenigstens ein Waffenstillstand her. Das geht nur mit neuen diplomatischen Ideen und Initiativen.

Wer sich mit dem Liefern von Waffen schwertut, muss auf dem Feld der Diplomatie aktiver werden und versuchen, alle relevanten Mächte an einen Tisch zu einer internationalen Friedenskonferenz zu holen. Es darf kein Sich-Abfinden mit einem Krieg in Europa geben, bei dem jeden Tag Hunderte Menschen sterben und die ganze Welt immer weiter an den Rand eines großen Krieges getrieben wird. Was jetzt – neben schweren Waffen zur Verteidigung – fehlt, ist eine kluge Idee, wie der Krieg zumindest unterbrochen werden kann.

Beide Kriegsparteien sind des Kampfes müde und könnten eine Pause zum Nachdenken gut gebrauchen. Dabei darf es nicht um einen Diktat-Frieden gehen, dem sich die Ukraine unterwerfen müsse. Sondern es geht um Zeit und Raum für politische Intelligenz, die einen Weg zum Frieden suchen muss. Eine Debatte, die ausschließlich auf Waffenlieferungen reduziert ist, wird diesen Weg nicht weisen.

Ukraine-Krieg: Angela Merkel hätte Zeit für eine Vermittlerrolle

Der ukrainische Präsident Selenskyj selbst hat schon Verhandlungen angemahnt und erste Stichworte dazu geliefert. Ein neutraler Status mit internationalen Sicherheitsgarantien sowie der Verzicht auf Atomwaffen sind zwei davon.

In Deutschland wäre viel Kompetenz für eine Berliner Initiative versammelt. Der Bundespräsident ist zweifacher Außenminister und wird aus dem Scheitern von Minsk hoffentlich gelernt haben. Angela Merkel hätte Zeit für eine internationale Vermittlerrolle und muss sich in keiner Regierungszentrale mehr vorstellen. Annalena Baerbock hat den Mut und die Energie für neue anstrengende Wege. Und Olaf Scholz könnte mit einer Offensive der Diplomatie dem Status des ewig Getriebenen endlich entkommen.

Selbst wenn die Chancen auf einen Erfolg überschaubar sind – einen Versuch wäre es wert.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.