Berlin. Russlands Präsident Putin könnte auch Deutschland den Gashahn bald zudrehen. Wer sollte versorgt werden – Bürger oder Unternehmen?

Was passiert, wenn Russland auch Deutschland den Gashahn absperrt wie Bulgarien und Polen? Diese Frage treibt die ganze Republik um. Wer wird in der Not bevorzugt versorgt – die Unternehmen oder Bürgerinnen und Bürger? Der verbale Verteilungskampf der Gasbestände tobt bereits auf allen Kanälen.

Prominent bringen sich derzeit Lobbyisten der Industrie in Position, um ihre Versorgung und damit ihre Existenz zu sichern. Dabei versuchen sie, eine Regel des Notfallplans Gas auszuhebeln, die bislang alle gut 83 Millionen Einwohner als „geschützte Kunden“ definiert: Denn den Haushaltskunden soll die Gasversorgung als letzte gekappt werden.

Die Sorgen der Unternehmen im Zuge des Ukraine-Kriegs sind nachvollziehbar. Eine sichere Energieversorgung ist die Hauptschlagader der Wirtschaft. Stoppt Präsident Putin die Gaslieferungen, hat dies erhebliche Auswirkungen auf die Produktion – und damit auf die gesamte Wirtschaftsleistung Deutschlands. Werke müssten gedrosselt oder abgeschaltet, die Produktion heruntergefahren werden.

Ukraine-Krieg: Nicht alle Unternehmen sind im Notfall wichtig

Beate Kranz ist Wirtschaftsredakteurin
Beate Kranz ist Wirtschaftsredakteurin © Reto Klar | Reto Klar

Insbesondere in der Chemieindustrie, die Rohstoffe und Vorprodukte für praktisch alle Branchen liefert, würde eine Produktionsverringerung alle Wirtschaftssektoren treffen und lähmen.

Die Ernährungsindustrie braucht wiederum Gas für Hitze und Kälte, um Lebensmittel herzustellen und haltbar zu machen. Fallen nur diese beiden Sektoren aus, wären Tausende Arbeitsplätze in Gefahr.

Auf der anderer Seite stehen wichtige Infrastrukturen wie Krankenhäuser, Energieversorger, die als letzte vom Gas abgekoppelt werden, um in der Not eine Grundversorgung der Menschen zu gewährleisten.

Besonders geschützt sind aber auch Privatleute, die Gas fürs Heizen und warmes Wasser verwenden – aktuell rund 21 Millionen Haushalte.

Diese Priorisierung wird nun infrage gestellt. Zu Recht. Die Reihenfolge in der Notfallstufe, die bisher zum Glück noch nie angewandt werden musste, sollte auf den Prüfstand. Dabei darf die Rangfolge nicht pauschal umgedreht werden, nach dem Prinzip: erst muss die Industrie und dann müssen die Privatleute geschützt werden. Vielmehr sollte eine Entscheidung für jeden einzelnen Fall getroffen werden. Für jedes Unternehmen, jede Infrastruktur, für die Bürger und vulnerable Gruppen im Besonderen.

Hintergrund:Ukraine: Was bedeutet Putins Gas-Embargo für Deutschland?

Ukraine-Krieg: Keiner darf Hungern oder Erfrieren

Klar muss sein: Niemand darf wegen fehlender Gasheizung erfrieren müssen. Niemand sollte wegen fehlenden Gases aufs Essen verzichten müssen. Gleichzeitig sollten alle Unternehmen wie Bürger aber schon jetzt – bevor der verbrauchsstarke Winter kommt - prüfen, wie sie aktiv dazu beitragen können, ihren Gasbedarf zu senken.

Wohlgemerkt: Es geht um die Einschränkung in der Notlage! Nicht jedes Unternehmen ist hier systemrelevant. Glasfabriken, die Spritzen oder Kanülen für die Medizin herstellen, sind sicher wichtiger als solche, die Trinkgläser produzieren. Manche Pharmahersteller bedeutender als Zementproduzenten. Hier hat die Bundesnetzagentur, die für den Notfallplan Gas eine Prioritätsliste erstellen muss, eine sehr hohe Verantwortung bei der Auswahl, wem, wann und wie stark das Gas gedrosselt werden muss, ohne dabei auf den Druck von Verbändevertretern hereinzufallen.

Schwarz-Weiß-Denken ist aber auch fehl am Platz. Auch Bürgern sollte in der Not zumutbar sein, nur noch zwei statt zehn Minuten zu Duschen oder aufs Baden und Saunieren in den eigenen vier Wänden zu verzichten. Auch dürften das Tragen von Pullis im Winter und nur 19 statt 23 Grad Wärme in der Wohnung aushaltbar sein. Erst recht, wenn dadurch die wirklich wichtigen Unternehmen am Laufen gehalten werden können. Denn eines gilt für uns alle: Ohne funktionierende Wirtschaft und Arbeitsplätze kein Wohlstand.

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen