Kabul. Die Taliban kontrollieren in Afghanistan immer mehr Städte. Doch ein “Blitzkrieg“ ist das nicht - sondern von langer Hand vorbereitet.

„Womöglich wird es wie beim letzten Mal sein. Da nahmen sie über Nacht Kabul ein“, erzählt Ahmad Jawed, 30, aus Kabul. Als die radikal-islamistischen Taliban die afghanische Hauptstadt erstmals vor 25 Jahren einnahmen, war Jawed ein kleines Kind. An jenen Morgen kann er sich dennoch gut erinnern.

Plötzlich waren die Taliban-Kämpfer da, während die Vertreter der Mudschaheddin-Regierung, die sich zuvor jahrelang gegenseitig bekriegt hatten, geflüchtet waren. Nun, knapp zwanzig Jahre nach Beginn der NATO-Besatzung im Land, könnte sich dieses Szenario wiederholen.

„Die letzten Tage haben deutlich gemacht, dass sie bald hier sein werden“, sagt Jawed. Er ist davon überzeugt, dass er bald einen weiteren Regimewechsel in seiner Geburtsstadt erleben wird.

Alles zu den neuesten Entwicklungen in Afghanistan lesen Sie in unserem Newsblog.

Seit dem Abzug der internationalen Truppe sind die Taliban auf dem Vormarsch

Während die internationalen Truppen weiterhin abziehen, sind seit einigen Wochen die Taliban in ganz Afghanistan auf dem Vormarsch. Allein in den letzten Tagen konnten die Extremisten alle wichtigen Provinzhauptstädte erobern, darunter etwa Herat nahe der afghanisch-iranischen Grenze, Dschalalabad im Osten des Landes, Kunduz und Mazar-e Sharif im Norden des Landes, wo auch die Bundeswehr stationiert war, sowie die südlichen Städte Kandahar, Zabul und Uruzgan.

Mehrere Kriegsfürsten und Milizionäre, die Ende 2001 dank amerikanischer Hilfe an die Macht kamen, haben sich gegen die Taliban in Stellung gesetzt und sind an den Fronten gescheitert. Die afghanischen Sicherheitskräfte ergeben sich oder desertieren nahezu täglich, während die Taliban Armeebasen einnehmen und die erbeuteten Waffen propagandistisch zur Schau stellen.

Afghanistan: Machtübernahme kam schneller als prognostiziert

Zahlreiche Analysen und Prognosen bezüglich einer Machtübernahme der Taliban wurden in den letzten Tagen und Stunden korrigiert. Der US-Geheimdienst CIA ging vor Kurzem davon aus, dass Kabul in den nächsten dreißig bis neunzig Tagen von den Extremisten erobert werden könnte. Auch diese Vorhersage muss nun wohl korrigiert werden.

Bereits an diesem Sonntag (15.08.) drangen die Taliban ins Kabuler Stadtgebiet vor und erreichten unter anderem den belebten Stadtteil Kot-e Sangi. Dann kam der Umschwung. Auf Befehl der Führung wurden die Kämpfer zurückgerufen. Es hieß, man wolle Kabul nicht mit Gewalt erobern. „Die Geschäfte sind zu. Hier herrscht Panik, doch meine Familie ist aufgrund des Rückrufs erleichtert. Hoffentlich stimmt die Nachricht“, sagt ein Bewohner von Kot-e Sangi.

Lesen Sie auch: Kabul umzingelt: "Taliban akzeptieren keine Menschenrechte"

Vormarsch der Taliban: Geheimdienstliches Versagen?

Selbst vielen bekannten US-Analysten in Washington fehlen aufgrund der jüngsten Ereignisse teils die Worte. Bill Roggio von der rechtskonservativen US-Denkfabrik „Foundation for the Defense of Democracies“ bezeichnete den erfolgreichen Vormarsch der Taliban als eines der „größten, geheimdienstlichen Versagen der letzten Jahrzehnte“.

Die ausgeklügelte Kriegsstrategie der Taliban sei laut Roggio „verdammt brillant“. Die Extremisten fokussierten sich anfangs auf den Norden des Landes und griffen dabei vor allem auf ihre usbekischen und tadschikischen Kämpfer zurück, die in der Region beheimatet sind.

Kein "Blitzkrieg" sondern gründlich vorbereitete Machtübernahme

In der Stadt Sheberghan, Geburtsstadt des berühmt-berüchtigten Warlords Abdul Rashid Dostum, eroberten Taliban-Kämpfer dessen Palast und posierten mit dessen beschlagnahmter Militäruniform. Dostum selbst war nicht zugegen. Gegenwärtig befindet er sich in Mazar-e Sharif, Hauptstadt der Provinz Balkh.

Während „Mazar“, wie die Afghanen die Stadt nennen, von den Taliban noch nicht erobert wurde, haben sie sich in den umher liegenden Distrikten schon seit Jahren festgesetzt. Ähnlich verhält es sich in praktisch allen anderen Provinzhauptstädten, die von den Taliban erobert wurden, weshalb die Bezeichnung „Blitzkrieg“ eher unzutreffend ist.

Vielmehr agierten die Taliban, unter anderem auch dank lokaler Unterstützung, jahrelang im Schatten der Hauptstädte. Nun sind sie effektiv in Erscheinung getreten und machen vom Moment Gebrauch. Das Resultat: Die betroffenen Regionen fallen wie Dominosteine in die Hände der Extremisten.

Kämpfer der Taliban in der Innenstadt von Herat.
Kämpfer der Taliban in der Innenstadt von Herat. © dpa

Ziel der Taliban: Ein "Islamisches Emirat"

Ohne einen Blick in die Vergangenheit sind die jüngsten Ereignisse allerdings kaum zu verstehen. Die Taliban-Bewegung formierte sich Mitte der 1990er-Jahre als Reaktion auf den Warlord-Terror der Mudschaheddin-Regierung, der in Afghanistan nach dem Fall des letzten kommunistischen Regimes 1992 vorherrschte.

1996 kamen die reaktionären Extremisten in Kabul an die Macht und schufen ihr „Islamisches Emirat“. Dessen Wiedererrichtung ist seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 weiterhin das Ziel der Gruppierung. Warum Afghanistan nun tatsächlich abermals davor steht, hat viele Gründe. Die meisten von ihnen lassen sich in Washington und Kabul finden.

Afghanistan: Hilfsgelder verschwanden im Korruptionssumpf

Kurz nach dem Einmarsch der NATO-Truppen verbündeten sich die USA mit ebenjenen Kriegsfürsten, die einst von den Taliban vertrieben wurden. Diese hatten von Anfang an kein Interesse an einen funktionierenden, demokratischen Staat, sondern fokussierten sich in erster Linie auf ihren eigenen Nutzen. Das Hauptaugenmerk der Regierung Hamid Karzais, die von Washington nach dem Einmarsch in Kabul installiert wurde, war demnach die persönliche Bereicherung durch ausländische Hilfsgelder.

In den letzten zwei Jahrzehnten wurden allein seitens der USA mindestens 1,5 Billionen US-Dollar ins Land gesteckt. Das meiste davon versickerte in jenem Korruptionssumpf, der sich im gesamten Land ausbreitete und praktisch jeden Bereich inklusive des Sicherheitssektor betraf.

Das Resultat von alldem lässt sich heute beobachten: Die Regierung in Kabul hat ein schwaches Fundament, das wohl bald in sich zusammenfallen wird, während die afghanischen Sicherheitskräfte von korrupten Militärs und Politikern konsequent ausgehöhlt wurden, sodass sie trotz all ihrer technologischen Mittel den Taliban wenig bis gar nichts entgegensetzen können.

Dies dürfte wohl auch in Kabul der Fall sein, wo sich die Angst breitmacht. „Wir erleben die dunkelsten Tage unserer Geschichte. Die gegenwärtige Situation wird zu einer großen Regression führen. Die politische Führung Afghanistans und die Taliban sind schuld an diesem Desaster“, meint etwa Jalal, ein Student aus Kabul. Er geht davon aus, dass sich die Situation in und um Kabul in den nächsten Tagen und Wochen verschlechtern wird.

Lage in Afghanistan: Regierung zeigt wenig Einsicht

Auch in vielen Regionen nahe der Hauptstadt sind die Extremisten seit Längerem präsent. Sie liegen teils nur eine Autostunde vom Präsidentenpalast entfernt. Dort findet allerdings weiterhin eine Realitätsverweigerung statt. Präsident Ashraf Ghani machte bereits deutlich, dass man gegen die Taliban kämpfen werde.

Regierungsvertreter, die sich ergeben haben, wurden einigen Berichten zufolge vom Geheimdienst NDS verhaftet. Zeitgleich findet seitens Ghanis Regierung ein verzweifelter Informationskrieg statt. In den letzten Wochen bekundeten Vertreter der Regierung über Facebook und Twitter immer wieder, dass die Taliban-Gefahr in erster Linie aufgrund der Unterstützung durch den Nachbarstaat Pakistan bestehen würde. Islamabad wird seit Jahren vorgeworfen, den Taliban unter die Arme zu greifen.

Eine wichtige Rolle hierbei würden vor allem das pakistanische Militär sowie der Geheimdienst ISI spielen. Doch während die Regierung sich auf Desinformationskampagnen stürzte, schufen die Taliban Fakten auf dem Boden. Mit diesen Fakten muss sich nun auch die internationale Staatengemeinschaft auseinandersetzen.

Gefahr durch die Taliban - wohl eine Viertelmillion Binnenflüchtlinge

Weitere Fluchtwellen in die Nachbarländer sind absehbar. Fast zeitgleich verkündete die türkische Regierung den Bau einer riesigen Mauer, um den afghanischen Flüchtlingsstrom abzuwehren. Flüchtlingsfeindliche Hashtags gegen Afghanen machen in der Türkei seitdem die Runde.

Zahlreiche Menschen sind in den letzten Tagen bereits nach Kabul geflüchtet, wo sie meist in provisorischen Flüchtlingslagern verweilen müssen. Menschenrechtsorganisationen berichten von mindestens eine Viertelmillion Binnenflüchtlingen. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um Frauen und Kinder.

„Wir haben alles zurückgelassen und sind nach Kabul geflüchtet. In Kunduz wird weiterhin gekämpft. Jene von uns, die zurückgeblieben sind, berichten von blutigen Gefechten. Die Luftangriffe der Amerikaner unterscheiden nicht zwischen Freund und Feind. Sie haben vielen Menschen getötet“, berichtet Khan Mohammad, ein Geflüchteter aus Kunduz. Mittlerweile lebt er mit seiner Familie in einem Park im Kabuler Stadtteil Shar-e Naw. Dort fehlt es weiterhin an Grundlegendem. Beobachter sprechen von einer humanitären Katastrophe, die sich anbahnt.