Washington. Der US-Virologe Fauci rechnet vor Ende 2021 nicht mit Normalität – anders als Trump, der einen Impfstoff in greifbarer Nähe sieht.

Es ist inzwischen ein Ritual geworden: Donald Trump malt auf seinen Kundgebungen oder im Weißen Haus die Coronavirus-Perspektiven Amerikas, getrieben von seinen Wiederwahl-Ambitionen, in rosaroten Farben. Obwohl täglich immer noch rund 40.000 Neu-Infektionen gemeldet werden. Obwohl alle 24 Stunden circa 1000 Menschen an den Folgen der Seuche sterben und die Totenzahl von bisher rund 195.000 stetig steigt.

Direkt nach Trump rückt sein Top-Virologe Dr. Anthony Fauci die Dinge ins wissenschaftlich-medizinisch korrekte Licht, relativiert Äußerungen Trumps, dämpft dessen Zweck-Optimismus und riskiert bei seinem Widerspruch neuen Groll aus dem Weißen Haus, wo nicht wenige Fauci seit Wochen mundtot machen wollen.

Trump: Impfstoff gegen Coronavirus steht fast vor der Tür

Diesmal könnte es lauter krachen als sonst. Sieben Wochen vor der Wahl hat Trump vor Wählern in Michigan in dieser Woche die Parole ausgegeben, dass ein Impfstoff quasi vor der Tür stehe. „Wir biegen auf die Zielgerade ein“, sagte Trump. Sein Ziel heißt: Normalität.

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Fauci konterte massiver als sonst. Eine Rückkehr zu Lebensverhältnissen wie in der Vor-Corona-Zeit werde es wahrscheinlich erst Ende 2021 geben können, sagte der 79-Jährige am Freitag in diversen Interviews.

Faucis Kalkulation basiert auf der Annahme, dass es zum Jahreswechsel 2020/2021 einen Impfstoff geben wird. Dessen Verfügbarkeit für die Bevölkerung werde aber zu Beginn begrenzt sein. Um das Gros der Menschen durchzuimpfen und so eine gewisse zu erzeugen, werde man bis Sommer 2021 benötigen. Mit dem Risiko, dass die Wirksamkeit des neuen Medikaments vielleicht nur bei 75 Prozent liegt. Zum Vergleich: Der Impfstoff gegen Masern wirke in 98 Prozent aller Fälle.

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Corona-Pandemie: US-Amerikaner zweifeln an Wirksamkeit eines Impfstoffes

Als erschwerenden Faktor sieht Fauci die generell in Amerika verbreitete Abneigung vor Impfstoffen. Im Corona-Fall sind die Zahlen noch signifikanter. Nach jüngsten Umfragen wollen selbst Trumps republikanische Anhänger nur zu rund 20 Prozent von dem Premieren-Impfstoff Gebrauch machen. Über 65 Prozent der Befragten äußerten starke Zweifel an der Wirksamkeit des Wirkstoffes. Sie befürchten, das Mittel könnte aus politischen Gründen überhastet durch die Prüfinstanzen gehetzt worden sein.

Anders als Trump hat Fauci vor allem die nahende Winter-/Grippe-Saison im Blick. Wenn sich aufgrund fallender Temperaturen das öffentliche Leben mehr in geschlossene Räume zurückziehe, werde das Ansteckungsrisiko steigen, sagt Fauci. Schon heute sei beunruhigend zu sehen, wie oft Menschen, vor allem jüngere, in Bars und Restaurants eng zusammenkommen und dabei Abstandsregeln ebenso ignorieren wie das Tragen von Atemschutzmasken.

Ratschläge von Gesundheitsexperten werden ignoriert

Fauci sieht darin einen wichtigen Treiber für die weiter auf weltweit beispiellosem hohem Plateau befindlichen Neuinfektionen. „Wir müssen uns in Sicherheit bringen, um durch den Herbst und den Winter zu kommen”, sagt Fauci, „und das wird nicht einfach.” Zumal Trump keinerlei Anstalten macht, die grundlegenden Vorsichtsmaßnahmen zu promoten oder vorzuleben.

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Dass bei seinen jüngsten Veranstaltungen Tausende zusammenkamen und nur eine verschwindende Minderheit Atemschutzmasken trug, hat Faucis Kollegen Francis Collins regelrecht wütend gemacht. Der sonst stets besonnen auftretende Direktor der Nationalen Gesundheitsbehörde NIH sagte nach den Fernseh-Bildern aus Michigan, er sei „ratlos” und „entmutigt” darüber, dass bei Trump-Veranstaltungen die Ratschläge vieler Gesundheitsexperten ständig ignoriert werden.