Frankfurt/Main. Die Affäre um die rechtsextremen Drohschreiben in Hessen wird immer größer. Für Saskia Esken ist es ein Alarmzeichen für die Politik.

Es werden immer mehr. Nach der Anwältin Seda Basay-Yildiz und der Wiesbadener Linken-Fraktionschefin Janine Wissler ist bekannt geworden, dass auch die Kabarettistin Idil Baydar von Rechtsextremisten bedroht wird. Alle drei Fälle spielen in Hessen. Jedes Mal führt die Spur zur Polizei. Und es sind noch mehr Frauen, die bedroht werden.

Nun zog Hessens Landespolizeipräsident Udo Münch Konsequenzen aus der Affäre: Er trat zurück. Wie Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) am Dienstag mitteilte, habe Münch um seine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand gebeten. Damit übernehme der Polizeipräsident die Verantwortung für Versäumnisse, „die er nicht alleine zu vertreten“ habe, sagte Beuth. Zuvor war bekannt geworden, dass es eine unberechtigte Abfrage der persönlichen Daten der drei betroffenen Frauen über hessische Polizeicomputer gegeben haben soll.

Münch soll von unberechtigter Datenabfrage gewusst haben

In einer Pressekonferenz erklärte Beuth, dass Münch die Informationen zur unberechtigten Datenabfrage nicht an ihn weitergegeben habe. Bereits im März sei Münch über eine entsprechende Abfrage von Daten informiert worden. Das Gesprächsprotokoll und den Sachverhalt habe der Polizeipräsident aber nicht bewusst wahrgenommen, weshalb er dem Innenminister nichts darüber berichtet habe.

Beuth und Münch seien sich aber inzwischen einig darüber, „dass eine derart herausragende Information – sowohl für die Ermittlungen als auch für die politische Bewertung dieser Drohungen, unmittelbar hätte erfolgen müssen“.

„Der Verdacht, dass nunmehr in drei Fällen womöglich ein Zusammenhang zu erfolgten Drohungen und Datenabfragen in polizeilichen Systemen bestehen könnte, lastet schwer“, betonte Beuth.

Saskia Esken: Verdachtsfälle in Hessen „ein Alarmzeichen“

SPD-Chefin Saskia Esken rief die Politik dazu auf, Rechtsextremismus bei der Polizei entschlossener zu bekämpfen. „In den letzten Monaten häufen sich die Hinweise auf rechtsextreme und gewaltbereite Täter und Netzwerke in den Reihen der Sicherheitsbehörden“, sagte sie unserer Redaktion. „Für die Politik muss das ein Alarmzeichen sein, jetzt endlich konsequent zu handeln.“

Die Verdachtsfälle bei der hessischen Polizei müssten auch den politisch Verantwortlichen deutlich machen, „dass es sich hier nicht um bedauerliche Einzelfälle handelt“, betonte Esken. Die Empfängerinnen der Drohmails hätten eine lückenlose Aufklärung der Hintergründe verdient.

Daten von Kabarettistin Idil Baydar auf Polizeirechner abgerufen

Die Kabarettistin Idil Baydar in ihrer Rolle der „Jilet Ayse“.
Die Kabarettistin Idil Baydar in ihrer Rolle der „Jilet Ayse“. © dpa | Thalia Engel

Am Dienstag hatte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Frankfurt einen Bericht der „Frankfurter Rundschau“ über die Verbindung zu einem Polizeirechner bestätigt und auch, dass es „weitere Fälle“ gebe. „Wir haben mehrere Drohschreiben gegen mehrere Geschädigte.“ Namen wollte sie nicht nennen. Gut möglich, dass noch mehr Menschen verunglimpft und bedroht worden sind. Aber nicht jeder Betroffene will unbedingt, dass sein Fall öffentlich wird.

Wie die Zeitung berichtete, wurden von einem hessischen Polizeicomputer die persönlichen Daten von Idil Baydar abgerufen. Die Kabarettistin wird laut der Zeitung seit Monaten von Rechtsextremisten bedroht. Sie habe Drohschreiben erhalten, die mit „SS-Obersturmbannführer“ unterzeichnet waren.

Baydar tritt unter anderem als „Jilet Ayşe“, eine 18-jährige Kreuzberger Türkin, auf und greift dabei immer wieder die Themen Rassismus, Migration und Diskriminierung auf.

Idil Baydar alias „Jilet Ayşe“ immer wieder Ziel von Rechtsextremen

Baydar ist nicht leicht einzuschüchtern. Bereits im vergangenen Jahr war die Kabarettistin Ziel von Drohungen aus rechtsextremen Kreisen geworden und hatte sogar Morddrohungen erhalten. Acht Mal erstattete sie Anzeige, acht Mal wurden die Ermittlungen eingestellt. Sie verliert allmählich das Vertrauen in die Polizei – und nicht von ungefähr.

Gegenüber dem „ARD-Mittagsmagazin“ sagte die Künstlerin, dass sie sich gerne wieder sicher fühlen würde. Sie wolle nicht „das Gefühl haben, dass ich vor der Polizei Angst haben muss.“

In einem Fall kamen die anonymen Nachrichten von einer Plattform namens 5vor12. Baydar erzählte der „Zeit“, dass die Plattform bereit war, die Daten rauszurücken, die Polizei aber gar nicht erst danach gefragt hatte. „Offenbar hat der Chaos Computer Club mehr Möglichkeiten als die Polizei.“

Janine Wissler und Seda Basay-Yildiz ebenfalls bedroht

Janine Wissler, Fraktionsvorsitzende der Linken im hessischen Landtag.
Janine Wissler, Fraktionsvorsitzende der Linken im hessischen Landtag. © dpa | Arne Dedert

Idil Baydar ist damit die nächste Prominente, bei der es Berichten zufolge unberechtigte Datenabfragen bei der hessischen Polizei gegeben haben soll. Zuvor war bekannt geworden, dass die persönlichen Daten der Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz und der hessischen Linken-Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler abgerufen worden waren. Sie erhielten rechtsextreme Drohschreiben, die mit „NSU 2.0“ unterzeichnet waren.

Am Dienstagabend wurde bekannt, dass auch die Berliner Bundestagsabgeordnete Helin Evrim Sommer Opfer einer Drohmail geworden ist. Die Kollegin habe eine furchtbare Todesdrohung erreicht, teilten die Fraktionschefs Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch, mit.

Auch Berlins Fraktionsvorsitzende Anne Helm und die Thüringer Bundestagsabgeordnete Martina Renner haben bereits mit „NSU 2.0“ unterzeichnete Drohmails erhalten.

Die Drohmails als Fax, Mail, Brief, SMS weisen laut „Frankfurter Rundschau“ Ähnlichkeiten in Aufbau und Wortlaut auf. Bisher sind nur Frauen bedroht worden, zwei von ihnen mit Migrationshintergrund.

Verfassungsschutz- Rechtsextremismus größte Bedrohung für Sicherheit

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    Hessischer Innenminister spricht von rechtem Netzwerk

    Der ebenso fatale wie nahe liegende Verdacht: Der Täter ist entweder Polizist oder hat Zugang zum Computer. Er hat Insiderwissen. Darob geriet Landesinnenminister Peter Beuth (CDU) unter Druck. Sein Dilemma: Als Dienstherr müsste er seine Beamten bis zum Beweis des Gegenteils in Schutz nehmen. Andererseits darf der CDU-Mann nicht den Eindruck erwecken, dass er blauäugig ist und sich hinhalten lässt. Beuth ist misstrauisch geworden.

    Er schloss öffentlich ein rechtes Netzwerk bei der hessischen Polizei nicht mehr aus; wohlwissend, dass er damit sowohl mehr Aufmerksamkeit als auch Widerspruch provoziert.

    Der Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Andreas Grün, sieht „überhaupt keine Beweise oder Anhaltspunkte“ für ein rechtsextremes Netzwerk seiner Kollegen. Zwischen den Verdachtsfällen gebe es „keine interaktive Kommunikation oder Vernetzung“.

    Grün räumt allerdings ein, „die Fälle lasten schwer auf der hessischen Polizei“. Interne Ermittlungen sind meist delikat. Der Zusammenhalt in Polizeireihen ist groß. Kritiker sprechen von einem falsch verstandenen Korpsgeist. „Wir kommen da wirklich sehr schlecht voran“, weiß Grün.

    Sonderermittler sucht „NSU 2.0“-Verfasser

    Beuth kommt über den üblichen Dienstweg nicht weiter. In der vergangenen Woche hatte er daher einen Sonderermittler zu den Drohmails eingesetzt: Der Direktor der Kriminaldirektion im Frankfurter Polizeipräsidium, Hanspeter Mener, übernahm federführend die Ermittlungen. Mener soll über seine Arbeit direkt Landespolizeipräsidentin Sabine Thurau berichten. So wird der Apparat umgegangen, Beuth hat einen Bypass gelegt.

    Mener soll die Fälle genau analysieren – mit einem neuen Blick. „Ziel ist es, den oder die Täter aus der Anonymität zu reißen“, so Beuth. Mener ist ein ausgebuffter Profi, bis 2018 war er für die Bekämpfung von schwerer und organisierter Kriminalität zuständig.

    Basay-Yildiz macht sich ihren eigenen Reim auf die Einsetzung des Sonderermittlers. Damit fühle man sich „wie ein Mensch zweiter Klasse“. Nachdem sie selbst 2018 mehrere Morddrohungen erhalten hatte, hielt es Beuth nicht einmal für nötig, sich persönlich bei der Anwältin zu melden. Den Sonderermittler setzte er erst ein, als mit Wissler erstmals eine Politikerin bedroht wurde. So sieht es für Basay-Yildiz aus.

    Die Anwältin hatte im Prozess um die zehn Morde des Killertrios „Nationalsozialistischer Untergrund“ Familien von Opfern vertreten. In ihrem Fall standen die Drohungen angeblich im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu einer mutmaßlich rechtsextremen Chatgruppe in der Frankfurter Polizei.

    (mit gau/jha/afp/dpa/raer)