Berlin. Christian Lindner ist demnächst der Dienstälteste unter allen Parteivorsitzenden. Am Montag wird der Chef der Liberalen 40 Jahre alt.
An einem nasskalten Winterabend steht Christian Lindner in der Berliner Parteizentrale, sieht eigentlich aus wie immer, fühlt sich aber nicht so. „Vom Bambi zum Dinosaurier in einem Jahr“, sagt Lindner. Und zuckt schicksalsergeben die Achseln.
Die Runde aus Parteifreunden und Journalisten horcht auf: Wie bitte? Fühlt er sich auf einmal alt? Immerhin wird Lindner an diesem Montag 40. Und das letzte Jahr war nicht ohne. Immer noch Ärger wegen Jamaika. Andauernd hat sich Lindner anhören müssen, was für ein kapitaler Fehler es war, die Koalitionsverhandlungen mit Union und Grünen platzen zu lassen.
Doch das alles meint er gar nicht – mit seinem Dinosauriergefühl. Die Pointe geht anders.
Nahezu alle Parteien haben den Posten ausgetauscht
Lindners rasante Alterung liegt an der rasanten Erneuerung der anderen: „Bei der Bundestagswahl war ich ein Nachwuchspolitiker mit Zukunft, heute bin ich fast der Dienstälteste unter den Parteivorsitzenden.“
Im Ernst? Im Ernst: Lindner ist seit fünf Jahren Parteichef. Die Grünen Annalena Baerbock und Robert Habeck kamen erst Anfang 2018 ins Amt, genauso SPD-Chefin Andrea Nahles. Bei der CDU hat sich Annegret Kramp-Karrenbauer den Vorsitz gerade erst erkämpft. Und Horst Seehofer gibt den Job als CSU-Parteichef in wenigen Tagen ab.
Selbst AfD-Chef Alexander Gauland ist erst seit Ende 2017 dabei. Heißt mit anderen Worten: Im vergangenen Jahr haben sich nahezu alle Parteien gehäutet – nur die FDP setzt nach wie vor auf Lindner.
Auf sein Gesicht, seinen Stil, seine Ideen.
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Lindners kleine Lieblingsgeschichte
Die kleine Geschichte, die der Dinosaurier unter den Parteichefs an jenem Abend noch erzählt, zeigt, dass bei ihm von Ermüdung keine Spur ist, dass Lindner auch noch bei Dunkelheit, Regen und im Stau am Profil von Partei und Person feilt: Auf dem Weg in die Parteizentrale, erzählt er, hätte ein anderes Auto den Wagen, in dem er saß, gerammt. Der andere Autofahrer hatte offenbar versucht, rechts zu überholen.
Lindner deutet die Sache politisch: „Wenn man rechts überholt werden kann, heißt das ja wohl, dass man in der Mitte unterwegs ist.“ Lindner gefällt die Geschichte so gut, dass er nicht zu merken scheint, dass die Pointe nach hinten losgeht: Der andere Wagen hatte es ja gerade nicht geschafft, Lindner rechts zu überholen. Er stieß gegen ihn.
Seit dem Jamaika-Aus verharrt die FDP bei neun Prozent
Doch so ergeht es Lindner öfter. Er erzählt eine Geschichte, will sich darin als kluger Kopf der politischen Mitte zeigen und erreicht das Gegenteil. Als er im Frühjahr von einer Begegnung in der Schlange beim Bäcker erzählte, von der Sorge, legale Zuwanderer nicht von Kriminellen unterscheiden zu können, war die Empörung groß.
Lindner hatte etwas über Ängste erzählen wollen, wirkte aber bloß wie einer, der Ängste schürt, ein Flirt mit dem rechten Rand.
Lindner blinkt zu oft nach rechts. Lindner ist zu unerfahren, um mitzuregieren. Lindner scheut die Verantwortung. Das sind die immer wiederkehrenden Vorwürfe. Dagegen wehrt er sich, seit er im Herbst 2017 die Verhandlungen für ein Jamaika-Bündnis mit Union und Grünen platzen ließ.
Jamaika gescheitert – Bilder der Nacht
Das Jamaika-Aus klebt an ihm, er wird es nicht mehr los. Die FDP verharrt seitdem in den Umfragen bei neun Prozent – und noch immer wird Lindner in fast jedem Interview auf sein Nein zum Regieren angesprochen. Oder er kommt selbst darauf.
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Lindner würde Jamaika wieder eine Chance geben
Er schätze Friedrich Merz persönlich, sagte Lindner neulich. Begründung: „Ich habe nicht vergessen, dass er unser Jamaika-Nein öffentlich als nachvollziehbar und verständlich verteidigt hat.“ Seit einiger Zeit sagt Lindner auch wieder, dass er Jamaika eine Chance geben würde, wenn die richtigen Leute am Tisch säßen. Das heißt vor allem: wenn Angela Merkel nicht mehr dabei wäre.
Lindner mag Merz. Doch er sieht auch die Vorteile, die die Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer für die FDP mit sich bringt. In Lindners Augen vertritt AKK eine „rückwärtsgewandte Gesellschaftspolitik“. Ihre Ablehnung der Ehe für alle, ihr Festhalten am Werbeverbot für Abtreibungen – Lindner fasst es in einem Wort zusammen: AKK rede wie eine „Zentrumspolitikerin“.
AKKs Linie für Lindner ein Geschenk
Wertkonservativ, katholisch, sozial.
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Je stärker sie die CDU auf diesen Kurs führt, desto leichter kann Lindner die FDP als Anwältin freiheitlicher, säkularer Werte profilieren.
Beim Dreikönigstreffen der Freien Demokraten am Sonntag in Stuttgart schwor Lindner seine Partei auf die neue Losung ein.
Dass da was nicht zusammenpasst, nahm er in Kauf: Der Mann, der mit 18 Jahren aus der katholischen Kirche ausgetreten ist, der gerade nach sieben Jahren seine Ehe beendet hat, um mit einer jungen Journalistin neu anzufangen, der sich ausdrücklich am christlichen Markenkern der CDU abarbeiten will – er suchte sich ausgerechnet den Dreikönigstag dafür aus, einen der wichtigen Feiertage im Kirchenjahr.