Stuttgart. Der FDP-Chef positioniert seine Partei auf dem Dreikönigstreffen wieder mal neu – auch in Abgrenzung zur CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer.

Christian Lindners Handy kommt nicht zur Ruhe. Das ist schon an normalen Tagen so, doch im Moment sind da auch noch die Anrufe und Nachrichten der vielen Unbekannten, die jetzt seine Mobilnummer kennen. Weil sie im Zuge des aktuellen Datenklau-Skandals im Netz aufgetaucht ist. Meistens, sagt er, seien es freundliche Kommentare, Leute die loben und Mut zusprechen. Auch daran dürfte es liegen, dass der FDP-Chef beim Dreikönigstreffen der Liberalen in Stuttgart so gute Laune hat.

Der andere Grund ist: Der FDP geht es nicht schlecht, die Umfragen sind so stabil wie nie zuvor in der Parteigeschichte. Seit Monaten liegen die Liberalen bei rund neun Prozent. „Wir kennen auch andere Zahlen. Wir erinnern uns an andere Zeiten“, sagt Lindner. Wenn trotzdem mal wieder von der Krise der FDP und des Liberalismus die Rede ist, stellt er sich einfach die Szene im Himmel vor, mit den verstorbenen Parteigrößen Walter Scheel, Otto Graf Lambsdorff, Guido Westerwelle und Hans-Dietrich Genscher, die von so viel Stabilität nur träumen konnten: „Die haben das gelesen und wünschen, dass diese Krise möglichst lange anhalte.“

Doch Parteien treten nicht an, um stabil zu sein und 80 Abgeordneten einen guten Job in Berlin zu bieten. Parteien treten an, um zu regieren. Lindner, der Mann, der mit „Jamaika-Aus“ das Wort des Jahres 2017 prägte und mit „lindnern“ (sich kurzfristig aus dem Staub machen) in die Endauswahl zum Jugendwort 2018 kam, weiß das natürlich.

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    Zusammengewürfelte Runde auf der Bühne

    An diesem Sonntag in Stuttgart sagt er deshalb langsam, laut und deutlich: „Wer uns ein faires Angebot macht, der kann zu jeder Zeit damit rechnen, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.“ Starker Applaus. Die Liberalen sind sichtlich erleichtert, dass der Chef wieder Lust aufs Regieren hat.

    Dass Lindner seine Partei dazu schon wieder ein bisschen neu erfinden will – das kennen sie ja mittlerweile von ihm. Auf der Bühne des Stuttgarter Staatstheaters sieht es aus wie im Betriebskindergarten eines Start-ups.

    Während das liberale Publikum im Parkett und auf den Rängen wie schon seit Jahrzehnten im angestaubten Neobarock des Traditionssaals sitzt, hocken Lindner und seine Leute in einer organisch gerundeten weißen Sitzlandschaft, die Wichtigeren auf einer gepolsterten Bank, die weniger Wichtigen auf kleinen Hockern. Ganz am Rand sitzt Anita Maaß, FDP-Bürgermeisterin im sächsischen Lommatzsch, gewählt mit fast 80 Prozent der Stimmen. Maaß verkörpert exakt das, was der FDP fehlt: Bei den Frauen und im Osten ist die Partei schwach.

    Die zusammengewürfelte Runde auf der Bühne soll zeigen, dass Lindners One-Man-Show vorbei ist. Doch der Leitwolf überragt auch im Jahr 2019 die anderen – einfach deshalb, weil er besser reden kann, weil er sich nicht an Karteikärtchen festhält, weil er nicht in Dreikönigsroutine verfällt, sondern mit Tonlage und Rolle spielt. Und dann klingt er plötzlich wie Friedrich Merz: „Wir wollen eine Agenda für die Fleißigen.“ Mit exakt demselben Satz hatte sich Merz um den CDU-Parteivorsitz beworben. Es ist die offene Einladung an enttäuschte Merz-Fans, zur FDP zu wechseln. „Jeder ist bei uns willkommen“, sagt Lindner.

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      Lindner schießt scharf gegen Annegret-Kramp-Karrenbauer

      Und zählt dann auf, für wen er mehr tun will: für Rentner, Hartz-IV-Empfänger, Geringverdiener und Minijobber, die sich abstrampeln, aber trotzdem zu kurz kommen. Weil jeder Zuverdienst auf die staatliche Hilfe angerechnet wird, weil bürokratische Grenzen Eigeninitiative blockieren. „Unser Sozialstaat ist für viele ein Hamsterrad geworden, in dem sie sich immer schneller bewegen müssen, ohne voranzukommen“, sagt Lindner. Die FDP als Partei der Zahnärzte und Anwälte mit der Kernforderung, den Soli abzuschaffen? Lindner weiß, dass das auf Dauer nicht reicht.

      Deshalb wirbt der Parteichef jetzt auch so deutlich um die Frauen: Mit einer „Agenda für Selbstbestimmung“ will er beweisen, das seine Partei die beste Freundin berufstätiger Frauen ist: die Lohnlücke einebnen, flexiblere Arbeitszeiten und -orte möglich machen, die Hilfen bei unerfülltem Kinderwunsch erweitern. „Wäre ich eine Frau, würde die Kasse meine Kinderwunschbehandlung morgen nicht mehr bezahlen.“ Lindner wird an diesem Montag 40 Jahre alt. Die Krankenkassen bezahlen in der Regel Kinderwunschbehandlungen bei Frauen nur bis zum vierzigsten Geburtstag.

      Der Parteichef ist nicht über Nacht zum Frauenversteher geworden. Aber er sieht hier eine Chance, der Union weitere Stimmen abzujagen. Damit das funktionieren kann, schießt er scharf gegen CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die die Ehe für alle in die Nähe von Inzest und Polygamie gerückt hatte. Mit AKK komme die „Rückabwicklung“ der modernen Merkel-CDU. Seine Zuhörer wissen: Wenn Lindner auf einmal gute Worte für Merkel findet, dann meint er es wirklich ernst.