Berlin. Therapeuten und Politiker plädieren für unterschiedliche Stufen der Arbeitsunfähigkeit. Ziel ist, die Heilungschancen zu verbessern.

Rund 14 Tage lang waren die berufstätigen Menschen in Deutschland im vergangenen Jahr krankgeschrieben. Die Zahlen variieren je nach Quelle, manchmal liegt der Durchschnitt bei zehn Tagen, manchmal sind es 17 Tage. Für alle Kranken aber gilt: Sie haben bei ihrem Arbeitgeber ein gelbes Formular abgegeben, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Damit müssen und dürfen sie ganze Tage lang nicht arbeiten.

Aus Sicht von Dietrich Munz ist das nicht immer der richtige Weg. „Kranke Arbeitnehmer sollten auch nur teilweise arbeitsunfähig geschrieben werden können, also auch zu 25, 50 oder 75 Prozent“, sagt Munz. Er ist Psychotherapeut in Stuttgart und Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer. Flexiblere Krankschreibungen würden der Realität besser gerecht werden, glaubt er.

Menschen seien „häufig nicht entweder uneingeschränkt gesund oder vollständig arbeitsunfähig“. Gerade bei psychischen Erkrankungen sei es häufig hilfreich, dass Patienten nicht vollständig oder zu lang aus dem Arbeitsprozess ausscheiden“, erklärt Munz.

Teilnahme soll für Arbeitnehmer freiwillig sein

Die Idee, die Krankschreibungen zu reformieren, ist nicht völlig neu. Munz ist keineswegs der Erste, der diesen Vorschlag macht. Es gibt aber nun einen aktuellen Anlass, der den obersten Standesvertreter der Psychotherapeuten dazu bringt, der Debatte neuen Schwung zu verleihen: In einem der vielen Gesetze, die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) derzeit auf den Weg durch den Bundestag gebracht hat, ist die Idee einer Teilkrankschreibung ebenfalls angelegt.

Im Entwurf für das „Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung“, mit dem vor allem Wartezeiten auf Arzttermine kürzer werden sollen, gibt es einen Teil, in dem es um die schrittweise Wiedereingliederung in den Beruf nach längerer Krankheit geht. Ärzte sollen verpflichtet werden, ab einer Krankschreibung von sechs Wochen „die Option einer stufenweisen Wiedereingliederung regelmäßig zu prüfen“. Die Teilnahme an dieser Maßnahme solle für die Arbeitnehmer aber freiwillig sein.

„Wenn der Bundesgesundheitsminister darüber nachdenkt, immer prüfen zu lassen, ob nicht ein schrittweiser Wiedereinstieg in das Arbeitsleben nach einer Reha möglich ist, dann kann man auch beim Krankschreiben flexibler entscheiden“, meint Psychotherapeut Munz. Arbeit könne belastend sein und zur Arbeitsunfähigkeit führen. Wenn Arbeit aber funktioniere, „dann hat sie viele positive Seiten und kann zur Gesundung beitragen“, sagt Munz. Die Arbeit biete eine Tagesstruktur und halte soziale Kontakte aufrecht: „Das kann eine wichtige Stütze für psychisch kranke Menschen sein.“ Arbeit verhindere, dass sich Menschen zu sehr zurückziehen und sozial isolieren.

Arbeitgeber haben Interesse an schneller Genesung ihrer Mitarbeiter

In der Politik finden die Psychotherapeuten durchaus Unterstützung für ihren Vorschlag. „Die Debatte einer flexiblen Krankschreibung ist begrüßenswert und kann für Arbeitnehmer und Arbeitgeber positive Auswirkungen haben“, meint etwa die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Christine Aschenberg-Dugnus. Eine reduzierte Arbeitszeit könne dem Arbeitnehmer helfen, nicht vollständig aus dem Arbeitsprozess auszuscheiden. Die Arbeitgeber wiederum hätten Interesse an einer schnellen Genesung ihrer Mitarbeiter. „Ob das Modell einer flexi­blen Krankschreibung auf alle Berufsgruppen angewendet werden kann, erscheint jedoch fraglich“, schränkt Aschenberg-Dugnus ein. Sie schlägt vor: „Ein Modellprojekt wäre geeignet, eine solche Form der Krankschreibung zu testen und zu erproben.“

Auch der CDU-Gesundheitspolitiker Rudolf Henke, der zugleich Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund ist, hat große Sympathien für eine flexiblere Krankschreibung. „Viele erkrankte Arbeitnehmer könnten wahrscheinlich schneller genesen und würden weniger lange dem Arbeitsprozess fernbleiben, wenn es nicht nur die Wahl zwischen Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit gäbe“, sagte Henke kürzlich.

Arbeitgeber und Gewerkschaften reagieren mit Zurückhaltung

Konkret schlägt Henke eine neue Form von Arbeitsminderungsbescheinigungen für Beschäftigte vor. Damit könnten Ärzte verordnen, dass Arbeitnehmer, wenn dies vertretbar sei, wenige Stunden am Tag arbeiten. Gerade bei psychischen Störungen und besonders bei Depressionen könnten längere Krankschreibungen die Symptome eher noch verstärken. „Oft kommt auch Angst um den Arbeitsplatz dazu“, so Henke. Auf dem Deutschen Ärztetag im Mai hatten Henke und andere Ärztefunktionäre bereits eine gesetzliche Grundlage für eine „Arbeitsminderung“ gefordert.

Arbeitgeber und Gewerkschaften reagieren auf diese Vorschläge mit Zurückhaltung. Der DGB mag nicht konkret darauf eingehen. Aus Sicht von Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach muss erst einmal die Wiedereingliederung von kranken Menschen in die Arbeit funktionieren, ehe man über neue Formen der Arbeitsunfähigkeit nachdenken könne. Auch die Arbeitgebervereinigung BDA zeigt sich skeptisch.

Verschiedene Modelle ermöglichen schrittweise Rückkehr in den Beruf

Ernst Dietrich Munz ist Präsident des Vorstandes der Bundespsychotherapeutenkammer.
Ernst Dietrich Munz ist Präsident des Vorstandes der Bundespsychotherapeutenkammer. © Bundespsychotherapeutenkammer | Bundespsychotherapeutenkammer

Der Vorschlag führe zu vielen offenen „betriebspraktischen Herausforderungen“, heißt es bei dem Verband. Zum Beispiel sei völlig unklar, wer die Haftung übernimmt, wenn sich der Gesundheitszustand der Beschäftigten in der Phase der Arbeitszeit verschlechtert. „Auch sind Zweifel angebracht, ob der Vorstoß zu einem geringeren Krankenstand führt oder nicht eher den gegenteiligen Effekt hat, dass verkürztes Arbeiten bei voller Bezahlung vermehrt stattfindet“, meinen die BDA-Experten.

Die Arbeitgeber weisen auch darauf hin, dass es bereits heute Modelle gibt, um erkrankten Beschäftigten einen vorsichtigen Wiedereinstieg in die Arbeit zu ermöglichen. Dazu zähle das sogenannte Hamburger Modell. Es ermöglicht Arbeitnehmern, nach einer längeren Zeit im Krankenhaus oder in der Reha wieder schrittweise in den Beruf zurückzukehren. Der Erfolg dieses Verfahrens ist unbestritten. Es gebe aber dafür „weder konkrete Strukturen noch Prozesse“, mit denen systematisch die Option einer solchen Wiedereingliederung geprüft werde, heißt es in dem Gesetzentwurf von Minister Spahn, der diese Prüfung deshalb nun zur Regel machen will. Und weiter: „Es ist nicht gewährleistet, dass alle Versicherten, für die eine stufen­weise Wiedereingliederung in Betracht kommt, tatsächlich eine entsprechende ärztliche Empfehlung erhalten.“

Ärzte sehen konkrete Schwierigkeiten auf sich zukommen

Dass dies nun anders werden soll, liegt auch an einem Gutachten namhafter Experten, die im März „einen grundlegenden Perspektivwechsel“ bei der Krankschreibung empfohlen hatten. Arbeitsunfähigkeit solle nicht länger als „Entweder-oder-Entscheidung“ gesehen werden, man solle sich auf die verbliebene Arbeitsfähigkeit eines Arbeitnehmers konzentrieren. Vorbild könne Skandinavien sein, wo es schon länger Erfahrungen mit Teilkrankschreibungen gebe. Diese Erfahrungen seien positiv, vermerkten die Gutachter.

Doch so sehr diese Haltung von vielen Ärzten unterstützt wird: Praktiker unter ihnen sehen ganz konkrete Schwierigkeiten auf sich und ihre Kollegen zukommen. Arzt und Patienten würden im Behandlungszimmer anfangen, über den Grad der Arbeitsfähigkeit zu diskutieren, befürchtete der Chef des Hausärzteverbands, Ulrich Weigeldt, schon vor einiger Zeit. „Wie das bei einer Grippewelle funktionieren solle, ist schwer vorstellbar.“