Berlin. Mehr als 100.000 Bürger unterstützen das Projekt „Aufstehen“. Die überparteiliche Initiative will „Wutbürger“ von der AfD zurückholen.

Um 10.26 Uhr ist es so weit. Sahra Wagenknecht bahnt sich durch den Pulk der Fotografen und Kamerateams den Weg in den Saal der Bundespressekonferenz. Auf diesen Moment hat sie monatelang hingearbeitet.

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geht politisch an den Start. Geduldig lässt Wagenknecht das Blitzlichtgewitter über sich ergehen. Sie kennt das. Sie ist der Profi im Kreis vieler Idealisten, die die Republik verändern und zu einem sozialeren Land machen wollen.

Wagenknecht hat zur Eröffnung eine Zahl mitgebracht. Bis Dienstagmorgen um 8 Uhr haben sich 101.741 Menschen bei „Aufstehen“ mit ihrer E-Mail-Adresse registriert. Die 49-Jährige, im Hauptjob Vorsitzende der Bundestagsfraktion der

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, spricht von einem überwältigenden Echo und einem Auftrag.

„Wenn man sich in diesem Land umsieht, spürt man, Deutschland verändert sich in eine Richtung, die viele Menschen nicht wollen.“ Die soziale Spaltung vertiefe sich, der Umgang werde rauer, aggressiver. Wenn es für eine linke Sammlungsbewegung noch eines Anstoßes bedurft hätte, „haben spätestens die Ereignisse in Chemnitz gezeigt, dass es so nicht weitergehen kann“, sagt Wagenknecht.

Wagenknecht sieht Krise der Demokratie

Deutschland erlebe eine handfeste Krise der Demokratie. Wer jetzt „den Hintern“ nicht hochbekomme, werde in fünf bis zehn Jahren das Land nicht mehr wiedererkennen. Mehr als 100.000 Menschen seien eine Graswurzelbewegung, die gesellschaftlichen Druck entfalten werde, dem sich die Parteien – allen voran SPD, Grüne und Linke – nicht entziehen könnten, glaubt Wagenknecht. Bisher aber strafen die Mitte-links-Parteien die Bewegung mit einer Mischung aus Häme und Kritik.

Der Chef des konservativen Flügels in der SPD, der Hamburger Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs, sieht einen „Egotrip von Frau Wagenknecht“, der nicht linke Kräfte im Land bündele, sondern die Linkspartei tiefer spalte. „Ich frage mich, wie lange die Linke eine Fraktionsvorsitzende ertragen kann, die einen eigenen Verein aufmacht?“

Wagenknecht und deren Ehemann, der frühere Linke-Chef Oskar Lafontaine, scharten einen „Haufen Gefrusteter“ um sich. Auch die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock begrüßt Wagenknechts Sammlungsbewegung mit harschen Worten. Während die Grünen als Teil eines überparteilichen und zivilgesellschaftlichen Bündnisses für Demokratie in Chemnitz Flagge zeigten, „standen gerade diejenigen, die jetzt ein ‚Aufstehen‘-Bündnis initiiert haben, dort leider nicht auf der Straße“. Wagenknecht begründete das mit Terminschwierigkeiten.

Heftige Reaktion von SPD und Grünen auf „Aufstehen“

Sahra Wagenknecht (Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke), Ludger Volmer (Bündnis 90/Die Grünen), Simone Lange (SPD), Oberbürgermeisterin der Stadt Flensburg, Autor Bernd Stegemann und Hans Albers (von rechts nach links) am Dienstag in der Bundespressekonferenz in Berlin.
Sahra Wagenknecht (Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke), Ludger Volmer (Bündnis 90/Die Grünen), Simone Lange (SPD), Oberbürgermeisterin der Stadt Flensburg, Autor Bernd Stegemann und Hans Albers (von rechts nach links) am Dienstag in der Bundespressekonferenz in Berlin. © dpa | Kay Nietfeld

Der Startschuss für „Aufstehen“ fällt in eine Zeit, da die Volksparteien große Teile der Bevölkerung nicht mehr an sich binden können, die SPD sogar unter die 20-Prozent-Marke sinkt und eine rechtspopulistische Kraft wie die AfD an Zuspruch gewinnt. Die heftigen Reaktionen von SPD und Grünen zeigen, dass sie „Aufstehen“ als ernsthafte Konkurrenz fürchten – unabhängig davon, dass die linkspopulistische Bewegung auf absehbare Zeit nicht bei Wahlen antreten will. Aber auch die AfD beobachtet Wagenknechts Projekt aufmerksam. Wächst da eine neue Konkurrenz um die Abgehängten und Unzufriedenen im Land?

Wagenknechts Mitstreiter, der frühere Grünen-Chef Ludger Volmer, sagt, er habe nach 13 Jahren sein „wunderbares Privatleben“ aufgegeben, um wieder politisch mitzumischen. CDU, SPD und Grüne seien der brave Mainstream, CSU und AfD der Gegenpol rechts der Mitte: „Das wird eine Republik, in der ich nicht leben möchte“, warnt Volmer.

Von der SPD hat Simone Lange angedockt. Die Flensburger Oberbürgermeisterin und Ex-Kandidatin für den Parteivorsitz sitzt stellvertretend für jenes Drittel in der SPD auf dem Podium, das die erneute große Koalition für ein großes Übel hält. Viele GroKo-Gegner in der SPD dürften Sympathien für „Aufstehen“ haben, was den Druck auf die SPD-Spitze, auf einen linken Kurs einzuschwenken, weiter erhöhen wird. In der SPD ist Lange nur ein B-Promi. Bei „Aufstehen“ heißt es, man habe sich vergeblich um Juso-Chef Kevin Kühnert bemüht.

Wagenknecht will keine „muffigen Hinterzimmerdebatten“

Wagenknecht betont in der 100-minütigen Vorstellungsrunde immer wieder, „Aufstehen“ wolle wie seinerzeit die Friedens- und Umweltbewegung den Protest von unten nach oben organisieren. „Ich bin es leid, die Straße Pegida und den Rechten zu überlassen“, sagt sie.

Wird es also Protestmärsche für höhere Renten, eine Abschaffung von Hartz IV und gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr geben? Wagenknecht weicht aus. „Was wir nicht wollen, sind muffige Hinterzimmerdebatten.“ Gefragt seien Aktionen, um soziale Forderungen auf die Straße zu tragen. Man müsse aber erst einmal schauen, wie groß das Engagement der Mitglieder ausfallen werde, schränkt sie ein.

Aber wie positioniert sich „Aufstehen“ in der Migrations- und Flüchtlingspolitik, wie wollen die Linken frustrierte Wutbürger für sich einnehmen, die bei AfD und Pegida mitlaufen? Die Flüchtlingsfrage sei für „Aufstehen“ kein primäres Thema, behauptet Wagenknecht da. Man wolle keine „exzessiven Debatten“ dazu führen, den Mitgliedern keine Meinung von oben diktieren. Das sind ungewohnte Ansagen der Frontfrau, die in der Linkspartei polarisiert wie keine andere.

Bartsch: Gelassenheit gegenüber "Aufstehen"

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    Wagenknecht stellt sich gegen Fremdenfeindlichkeit

    Beim Parteitag im Sommer in Leipzig war sie mit ihrer Position, die Zuwanderung zu begrenzen, weil diese Konkurrenz bei Wohnraum und Jobs schaffe, krachend gescheitert. Wagenknecht und Lafontaine stehen schon länger im Verdacht, dass ihnen auch nationalistisch-populistische Töne recht sind, um ihre Ziele zu erreichen. Ausgerechnet in Chemnitz – aber bereits 2005 – hatte Lafontaine, seinerzeit bei einem Wahlkampfauftritt gesagt, der Staat müsse verhindern, „dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen“.

    Wagenknecht ist um Klarstellung bemüht: „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben in unserer Bewegung nichts zu suchen.“ Eindringlich warnt sie, alle Ostdeutschen in einen braunen Topf zu werfen. Es sei fahrlässig zu behaupten, der Großteil der Bevölkerung in Chemnitz oder Dresden billige Rechtsextremismus. „Damit treibt man diese Leute nach rechts.“ Mit „Aufstehen“ bekämen jene Enttäuschten jetzt ein Gegenangebot.

    Stegemann soll Brücken bauen in das kreative Milieu

    Aber wie unabhängig ist die Sammlungsbewegung, woher kommt das Geld für Aktionen? Für das Organisatorische ist Bernd Stegemann zuständig. Mit „Aufstehen“ lässt sich der Intellektuelle und bekannte Theatermacher erstmals auf das Abenteuer Politik ein. Er soll Brücken bauen in das kreative und künstlerische Milieu.

    Stegemann formuliert ein wenig ungelenk. Der Regierungsstil der Koalition von Angela Merkel sei von „Themenvampirismus und Gefühlsanästhesie“ geprägt. Und das Geld? Alles laufe ehrenamtlich. „Wir brauchen dringend Spenden, fünf oder zehn Euro, weil wir gar kein Geld haben.“

    Wagenknecht beklagt "handfeste Krise der Demokratie"

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      Wagenknecht will angeblich keine Parteigründung

      Noch eine große Frage steht im Raum: Muss eine Bewegung, die eine soziale Wende erreichen will, nicht bei Wahlen für ihr Angebot streiten? Jeder vierte Deutsche könnte sich theoretisch vorstellen, „Aufstehen“ zu wählen, wie

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      ergab. Fast 47 Prozent der Befragten würden aber „auf keinen Fall“ dafür ihre Stimme geben. Das sehen auch knapp 60 Prozent der SPD-Anhänger so, wogegen 53 Prozent der Linken-Sympathisanten Wagenknecht an der Wahlurne folgen würden.

      Die verneint Ambitionen in Sachen Parteigründung. Ziel sei es, nach der Wahl 2021 wieder eine linke Mehrheit im Bundestag von SPD, den Linken und Grünen zu haben. „Ich möchte nicht auf Dauer Oppositionsreden halten.“ Parteiinterne Kritik an ihrer Doppelrolle bei der Linken und „Aufstehen“ wischt sie beiseite. Außerdem müsse sie nicht für 100 Jahre an der Spitze von „Aufstehen“ stehen. „Mir geht’s nicht darum, dass ich immer vorne tanzen muss.“ Ihre Gegner werden bei diesem Satz laut gelacht haben.