Berlin/Chemnitz. Bei den Ausschreitungen in Chemnitz wurden Gegendemonstranten und auch Polizisten angegriffen. Die Polizei räumt selbst Fehler ein.

Neonazis und Hooligans bestimmen das Bild, das zwei Tage lang aus Sachsen in die Republik ging. Auslöser ist der Tod eines 35 Jahre alten Mannes am Rande des Stadtfestes in Chemnitz. Die Stimmung ist aufgeheizt.

Am Montagabend hatte die Polizei nach eigenen Angaben 1500 Demonstranten zu einer rechten Kundgebung erwartet, 1000 hatten die rechtsradikalen Initiatoren bei den Behörden angemeldet. Es kamen 6000. Darunter organisierte Neonazis, Hooligans, sogenannte Autonome Nationalisten, junge Rechtsextremisten. Laut eigenen Recherchen und Zeugenberichten wurde mehrfach der verbotene Hitlergruß gezeigt, wurden ausländerfeindliche Parolen skandiert, Gegendemonstranten attackiert. Bei den

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– am zweiten Tag der Proteste aufgrund der Gewalttat gegen den 35-jährigen Daniel H. – wurden laut Polizei 20 Menschen verletzt, 18 Demonstranten und zwei Beamte.

Wieder Sachsen, wieder rechtsextremistische Ausschreitungen. Freital, Heidenau, Clausnitz – in diesen Orten hatte es seit 2015 fremdenfeindliche Proteste gegeben, die eskalierten. Jetzt Chemnitz. Kanzlerin Merkel schaltete sich am Tag danach ein. „Hetzjagden und Zusammenrottungen in Chemnitz“, wie sie in Videoaufnahmen zu sehen seien, hätten „mit unserem Rechtsstaat nichts zu tun“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier telefonierte mit der Oberbürgermeisterin von Chemnitz. Nach den Ausschreitungen wird erneut Kritik laut an der Strategie der Polizei. Waren die Beamten überfordert? Und allmählich wächst die Wut bei vielen, warum Sachsen mit Gewalt von Rechtsextremisten immer wieder auffällt.

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Wie war die Polizeistrategie in Chemnitz?

Die

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setzte nur auf eigene Einsatzkräfte. Das war zu wenig, wie sich heute zeigt. Schon am Montagmittag ging ein Lagebericht des Verfassungsschutzes in Sachsen an die dortige Einsatzleitung der Polizei. Darin hieß es, so sagt es ein Sprecher des Inlandsgeheimdienstes, dass der Verfassungsschutz am Abend mit einer niedrigen oder mittleren vierstelligen Zahl an Demonstranten auf der Kundgebung der Rechtsradikalen rechne. Es kamen 6000. Und vor Ort waren 591 Polizisten. Zum Vergleich: Beim G20-Gipfel in Hamburg standen mehreren Tausend und mitunter auch gewaltbereiten Linksradikalen rund 30.000 Polizisten gegenüber.

Verletzte bei neuen Ausschreitungen in Chemnitz

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    In Chemnitz stiegen im Laufe des Montags die Prognosen zur Teilnehmerzahl immer weiter an. Rechtsextreme und Hooligans hatten mobilisiert. Durch die Tötung des Daniel H., mutmaßlich begangen durch einen Syrer und einen Iraker, mobilisierten Flüchtlingsgegner mit emotionalen und teilweise hetzerischen Parolen. Vor Ort war die Herausforderung für die Polizei, die Rechtsextremisten von Gegendemonstranten zu trennen. Zugleich mussten die Einsatzkräfte die Demons­trationsfreiheit für die friedlichen Protestler gewähren – keine einfache Aufgabe. Aber gerade deshalb hätten Polizisten aus anderen Bundesländern oder von der Bundespolizei angefragt werden müssen.

    Die Zeit war knapp, aber das ist in solchen Lagen möglich. Mehrere Wasserwerfer hatte die sächsische Polizei am Montagabend vor Ort. Das ist einerseits ein Signal: Die Polizei hat mit Ausschreitungen gerechnet. Andererseits: Warum wurden nicht mehr Kräfte angeordnet?

    Wer ist mutmaßlich verantwortlich für die Ausschreitungen?

    Die Sicherheitsbehörden, aber auch zivile Organisationen registrierten seit Sonntagabend einen massiven Aufruf für die Demonstration in Chemnitz in rechtsextremen Gruppen – vor allem im Internet. Die Hooliganszene im Umfeld des Fußballregionalligisten Chemnitzer FC sei „besonders mobilisierungsstark“, heißt es beim Verfassungsschutz.

    Zwei Gruppen – „Kaotic“ und „NS Boys“ („New Society Boys“) – steckten vor allem hinter den gewaltsamen Protesten. Fachleute erkannten schon in der Vergangenheit, dass gerade Hooligans schnell Mitglieder zu Protesten zusammentrommeln können. Anmelder der Demonstration war die Gruppe „Pro Chemnitz“, an dessen Spitze etwa ein früheres Mitglied der rechtsradikalen „Republikaner“ steht. Nach neuen Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden waren auch Reichsbürger, Hooligans und Rechtsextreme aus Berlin nach Chemnitz gereist. Die Gruppe sei sehr heterogen gewesen und habe sich über das Internet mobilisiert.

    Sachsens Ministerpräsident Kretschmer verurteilt Ausschreitungen scharf

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      Von Behörden der anderen Bundesländer sei nach Angaben der sächsischen Polizei der Hinweis im Vorfeld gekommen, dass sich lediglich zwei Gruppen mit jeweils 15 Personen auf den Weg nach Chemnitz machen. „Dass es dann noch mal eine solche Vervielfachung gab, das war für uns nicht zu prognostizieren“, sagt Landespolizeipräsident Jürgen Georgie. Die Chemnitzer Bürgermeisterin Barbara Ludwig sagte, es sei für sie dennoch keine Option gewesen, die Kundgebungen abzusagen.

      „Das Versammlungsrecht ist ein hohes Gut in Deutschland. Aber unter dem Deckmantel eines Trauermarsches eine Demons­tration mit Nazisymbolen zu führen, ist eine Instrumentalisierung dieses tragischen Vorfalls“, sagte Ludwig. Die SPD-Politikerin will in den kommenden Monaten die Sicherheit in der Stadt verstärken. Der stellvertretende Ministerpräsident und Ost-Beauftragte der SPD, Martin Dulig, sieht in Sachsen Versäumnisse im Kampf gegen rechts. Das Pro­blem sei jahrzehntelang verharmlost worden. „Wir Sachsen müssen mit diesem Makel leben, den uns eine lange Zeit sehr bräsige CDU beschert hat“, sagte Dulig unserer Redaktion.

      Welche Straftaten wurden auf den Demonstrationen begangen?

      Laut Polizeibericht kam es gegen 18 Uhr zu ersten aggressiven Störungen in der Chemnitzer Innenstadt, als linke Demonstranten ein Plakat der Versammlung „Pro Chemnitz“ entwenden wollten. Anschließend gelangen Demonstranten von „Pro Chemnitz“ auf die Gegenseite und griffen Gegendemons­tranten an. Die Polizei trennte daraufhin die beiden Seiten durch eine Wand aus Polizeifahrzeugen. Kurz darauf wurde bekannt, dass Teilnehmer von „Pro Chemnitz“ den Hitlergruß gezeigt hatten. Am Abend wurden die Auseinandersetzungen immer aggressiver.

      Bei den Ausschreitungen in Chemnitz wurde Feuerwerk gezündet.
      Bei den Ausschreitungen in Chemnitz wurde Feuerwerk gezündet. © Sean Gallup

      Flaschen und Feuerwerk flogen von beiden Seiten in Richtung der Menschenmenge. Es kam zu Verletzungen. Auf beiden Seiten verzeichnete die Polizei Verstöße gegen das Vermummungsverbot. Während der rechte Demonstrationszug durch die Stadt zog, wurde die Besatzung eines Polizeihubschraubers von Laserpointern geblendet. Geschädigt wurde bei dem Vorfall niemand. Auch während der Abreisephase kam es zu gewalttätigen Angriffen. Nach Informationen unserer Redaktion griffen die Ordner der rechten Demonstration teilweise ein und bremsten aggressive Teilnehmer aus ihren eigenen Reihen – auch dort, wo die Polizei damit teilweise überfordert war. Insgesamt wurden 43 Anzeigen erstattet, elf wegen Körperverletzung und zehn wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

      Was ist an den Vorwürfen dran, Sachsens Polizei sei auf dem rechten Auge blind?

      Am Montag hat die Polizei gerade in Chemnitz versucht, diesen Eindruck nicht entstehen zu lassen. Die Polizei wolle alle Delikte wie das Zeigen des Hitlergrußes konsequent verfolgen, heißt es heute. Zudem ging sie etwa sofort gegen Vermummung vor. In der Vergangenheit hatte es mehrfach Einzelfälle gegeben, die eine Nähe der Polizei zu den politischen Inhalten von Rechten vermuten lassen. Bekannt geworden sind zudem die Vorfälle von Clausnitz, wo ein Polizeibeamter sehr rabiat mit Polizeigriff gegen einen Flüchtlingsjungen vorging, und von Bautzen, wo sich die Polizisten am Rande einer fremdenfeindlichen Demonstration ebenfalls positiv über die zum Teil gewaltbereiten Rechtsextremen äußerten. Zuletzt wurde bekannt, dass ein Mitarbeiter des LKA Sachsen bei der fremdenfeindlichen Pegida-Demonstration mitgelaufen war.

      Was ist der Stand der Ermittlungen im Tötungsdelikt Daniel H.?

      Auslöser der aufgeheizten Stimmung in der westsächsischen Stadt war der Tod eines 35-jährigen Deutschen in der Nacht zum Sonntag am Rande des Stadtfestes. Zwei Tatverdächtige, ein 23 Jahre alter Syrer und ein 22 Jahre alter Iraker, sitzen in U-Haft. Anders als im Internet kolportiert ging den tödlichen Messerstichen laut Polizei kein sexueller Übergriff auf eine Frau voraus. Landespolizeipräsident Georgie sagt, es habe einen Streit zwischen zwei Männergruppen gegeben, in dessen Verlauf schließlich Messer gezogen worden seien. Die genauen Hintergründe sind noch unklar. Die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt wegen vorsätzlicher Tötung.