Bautzen. Mit Sachsens SPD-Chef Dulig unterwegs im verunsicherten Sachsen: Wie hält der Ost-Beauftragte den Druck aus, als SPD-Retter im Osten?

Plötzlich wird es laut an Martin Duligs Küchentisch. Ein älterer Herr redet sich in Rage, rauft sich das zerzauste dunkle Haar. Seit 26 Jahren ist er in der

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. In Sachsen, wo einst Bebel und Lassalle die Arbeitermassen begeisterten, sieht er für seine Partei schwarz. „Es ist fünf vor zwölf für die SPD. Noch ein, zwei Jahre, dann ist Schluss hier. Dann haben wir einen AfD-Wirtschaftsminister“, herrscht er Dulig an.

Der ist in Sachsen Wirtschaftsminister, Vize-Ministerpräsident, SPD-Landeschef, neuerdings Ost-Beauftragter der Bundespartei. Und YouTube-Star wider Willen.

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, der kurz darauf abgegeben wurde. Das Video, wie Dulig mit weit aufgerissenem Mund den Fund bejubelte, war im Internet ein Renner.

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Dulig will seit Jahren mit Bürgern ins Gespräch kommen

Aber wieso sitzt ein wütender Genosse bei Dulig am Küchentisch? Und warum steht das Kiefernholzmöbel an einem lauen Mai-Abend im vierten Stock des Bautzener Stadtmuseums? Dulig ist seit Jahren mit dem ausrangierten Tisch unterwegs, um mit Bürgern ins Gespräch zu kommen.

Das ist keine Selbstverständlichkeit. In Sachsen (aber nicht nur dort) gibt es eine Menge Leute, die die Demokratie und ihre Repräsentanten verachten. In Bautzen wurde der damalige Bundespräsident Joachim Gauck mit „Volksverräter“-Rufen begrüßt. Auf dem Kornmarkt unten vor dem Museum lieferten sich im Herbst 2016 Rechte und Flüchtlinge eine Straßenschlacht.

In der Lausitz arbeiten viele Kumpel in der Braunkohle

Duligs Mitarbeiter haben in Bautzen rote Lesezeichen mit Verhaltensregeln auf die Stühle gelegt: „Ich beleidige nicht“, „Ich lasse andere ausreden“ oder „Am Küchentisch trinke ich keinen Alkohol“, steht darauf. Als Dulig gemeinsam mit Bautzens Oberbürgermeister, Alexander Ahrens, den kleinen Saal betritt, klatscht einer. Einer von 40.

Dulig hält es nach der Kritik des Genossen kaum auf seinem Stuhl: „Rede die AfD nicht herbei! Wir thematisieren die viel zu oft und helfen denen.“ Lehrermangel, überfüllte Gefängnisse, die Tafel, Hartz IV, Kohle-Ausstieg. Flüchtlinge. Nach dem Mund redet Dulig niemandem. In der Lausitz arbeiten viele Kumpel in der Braunkohle.

Einfühlsame Berichte vom Elend der Obdachlosen in der Stadt

Kann die SPD den Ausstieg aufhalten, fragt eine Frau. „Der ist längst beschlossene Sache“, antwortet Dulig. Um das Jahr 2040 sei Schicht im Schacht. Aber wird es andere Jobs geben, hakt die Dame nach. Dulig nickt heftig. „Wir wollen ja Indus­trieland bleiben und nicht Wolf-Erwartungsland werden.“ Da wird gelacht. Das mit den Wölfen war gut.

Aber wie geht ein Sozi im Osten mit Alltagsrassismus und Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen um? Wie mit dem Einwurf eines braun gebrannten Sozialarbeiters, der so einfühlsam vom Elend der Obdachlosen in der Stadt oder der Drogenabhängigen im Knast erzählen kann, gleichzeitig aber glaubt, die Kanzlerin wolle ein „monoethnisches in ein multikulturelles Land verwandeln“? Da schreitet Dulig ein.

„Integriert erst mal uns“, sagen viele Sachsen

Bei allem Verständnis für seine Ossis zieht er klare Grenzen. Ein Spruch lässt ihn aber nicht los: „Integriert erst mal uns“, sagten viele Sachsen ihren Politikern. Man dürfe nicht alle in die rechte Ecke stellen. Mühsam hätten viele nach der Wende „ihr Glück im Kleinen“ verteidigt, ohne Hilfe des Staates.

Dann sei für Flüchtlinge Geld da gewesen. Das empfänden viele als ungerecht. Dulig weiß, wovon er spricht. Sechs (!) Kinder hat er. Das erste kam, da war der spätere Maurer mit Abi 16. Schon mit 15 trat er in die SPD ein, gründete die Jusos in Sachsen mit, fuhr in den Ferien mit einem Kumpel Hilfsgüter nach Rumänien, studierte Pädagogik. Im Herbst 1989 saß sein Bruder nach einer Demo in Bautzen im Stasi-Knast.

Dulig will den Ossis ihren Stolz wiedergeben

Wie hält er den Druck aus, als SPD-Retter im Osten? Er schüttelt den Kopf. „Die Erwartungshaltung ist nicht zu befriedigen.“ Von vier Millionen Sachsen sind gerade mal 5400 in der SPD. „Ich will eine Projektionsfläche sein für den anderen Blick auf Ostdeutschland.“

Er will den Ossis ihren Stolz wiedergeben („Respekt vor der Lebensleistung“). Im Westen dafür werben, dass es da viel mehr gibt als Ostalgie und verwahrloste Seelen. „Der Mensch aus dem Ruhrpott sagt mir dann: Bei uns ist es auch schlimm. Und bei euch sind die Straßen saniert. Wir waren bei der Ost-West-Angleichung mental schon mal weiter. Da erleben wir einen Rückschritt.“

SPD ist vor allem im Osten existenziell bedroht

Seine eigene Partei habe an dem Punkt Nachholbedarf. „Der Maßstab, ob etwas gut ist, ist immer ein westdeutscher.“ Dabei ist die SPD vor allem im Osten existenziell bedroht. Bei der Bundestagswahl wurde die AfD in Sachsen knapp stärkste Kraft. Bei der Landtagswahl im Sommer 2019 will die AfD die CDU erneut abhängen.

Die gab seit der Wende in Sachsen als „Staatspartei“ den Ton an, regiert seit 2014 in Dresden mit der SPD. Damals holte Dulig 12,4 Prozent, was ein Erfolg war. Auch in Thüringen und Sachsen-Anhalt kämpft die SPD ums Überleben – in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg läuft es besser, dort führt sie jeweils die Regierung an.

Flüchtlinge sind in Ausbildung, die Wirtschaft boomt

Mit Dulig am Küchentisch sitzt Parteifreund Ahrens. Der baumlange Bautzener OB mit dem Vollbart erzählt, wie nach den Krawallen am Kornmarkt mit mehr Sozialarbeitern und einer stärkeren Polizeipräsenz Ruhe eingekehrt sei. Flüchtlinge sind in Ausbildung, die Wirtschaft boomt, Familien ziehen in den Landkreis, die Geburtenrate ist bemerkenswert hoch.

Aber warum wählten bei der Bundestagswahl im Landkreis Bautzen knapp 33 Prozent die AfD? Fürchtet Ahrens trotz der Fortschritte nicht, bei der nächsten Kommunalwahl aus dem Amt gefegt zu werden? „Ich bin mir relativ sicher: Auch 2022 wird es hier keinen AfD-Bürgermeister geben“, sagt der gebürtige Berliner. Er tritt wieder an. „Ich traue mir das zu, die wegzuhauen.“

„Wer sich nicht benehmen kann, kriegt was auf die Finger“

Der 52-jährige Jurist und Sinologe zählt zu jener Riege von SPD-Kommunalpolitikern in Ost und West, die – anders als die Bundespartei – eine sehr klare Sicht auf die Flüchtlingskrise und ihre Folgen haben. Das hört sich bei Ahrens in Bautzen so an: „Wer sich nicht benehmen kann, kriegt was auf die Finger.“ Oder: „Wer sich nicht integrieren will, da muss die Frage erlaubt sein: Was will der hier?“

Der Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt findet, die Bundes-SPD sollte sich ein Beispiel an Leuten wie Ahrens nehmen. „Die SPD hat in der Migrationspolitik nie eine akzeptable Alternative zur Willkommenskultur gefunden“, sagt der Professor.

Zu viel Verständnis für die Anti-Islam-Bewegung Pegida?

„Dabei haben SPD-Kommunalpolitiker längst die gleiche Denke und die gleichen Rezepte entwickelt, wie sie die Pegida-Demonstranten schon im Winter 2014/2015 hatten.“ Patzelts Ansichten sind nicht unumstritten. An der TU Dresden warfen ihm Studierende zu viel Verständnis für die Anti-Islam-Bewegung Pegida vor. Chaoten zündeten sein Auto an.

Deutlich wird in Bautzen, wie groß die Distanz der Landesverbände zum Willy-Brandt-Haus ist. Wird Andrea Nahles, die erste Frau an der Parteispitze in 155 Jahren, die versprochene „Erneuerung“ liefern?

Unterstützung von Flensburger Bürgermeister-Kollegin Lange

„Ich kann das Wort fast nicht mehr hören“, platzt es aus Dulig heraus. Wie Nahles sich zu Jahresbeginn mit Martin Schulz zunächst die Ämter habe aufteilen wollen, sei nicht gut gewesen. „Andrea Nahles hat ein Imageproblem. Und sie wird massiv arbeiten müssen, um das zu korrigieren.“ Er traue ihr das aber zu. Ahrens wird deutlicher.

Er hatte seine Flensburger Bürgermeister-Kollegin Simone Lange, die beim Parteitag in Wiesbaden immerhin 27 Prozent gegen Nahles geholt hat, nach Bautzen eingeladen und unterstützt: „Ich bin der Meinung, Andrea Nahles ist uns vom Parteivorstand aufoktroyiert worden. So was kannste heute noch in China machen, aber hierzulande funktioniert das nicht“, sagt Ahrens.

Dulig und Ahrens helfen, wo sie können

Nahles habe außerhalb der Partei nie eine Wahl gewonnen: „Sie ist für mich der klassische Apparatschik.“ Wer Dulig und Ahrens zwei Stunden erlebt, fragt sich, warum es der SPD in Sachsen und im Osten eigentlich so schlecht geht. Sie ducken sich nicht weg, helfen, wo sie können.

Am Ende klatscht in Bautzen nicht wie bei der Begrüßung nur einer, sondern applaudieren mindestens 25. Ist Dulig trotzdem der letzte Sozi, der 2019 in Sachsen das Licht ausmacht? Er widerspricht lachend. „Ich freue mich wirklich auf den Wahlkampf. Ich bin ja nicht als Totengräber angetreten.“ An seinem Küchentisch jedenfalls ist die SPD noch ziemlich lebendig.