Aachen. Frankreichs Präsident Macron hat in Aachen den Karlspreis erhalten. Seine Dankesrede nutzte er für eine Abrechnung mit der Kanzlerin.

Emmanuel Macrons Geduld mit der Kanzlerin und ihrer Bundesregierung geht zu Ende. „Wir dürfen nicht warten, wir müssen jetzt etwas tun und Entscheidungen für Europa treffen“, ruft der französische Präsident im Aachener Rathaus. Er ballt beide Hände zur Faust, die goldglänzende Karlspreis-Medaille, die sie ihm kurz zuvor um den Hals gelegt haben, rutscht hin und her.

Mehr Mut sei nötig, Deutschland und Frankreich müssten über ihren Schatten springen, drängt Macron: Paris müsse neue Regeln im EU-Vertrag akzeptieren, in Deutschland aber könne es keinen „Fetisch“ für Haushalts- und Handelsüberschüsse geben – diese Überschüsse, beklagt Macron ungewöhnlich klar, gingen immer auf Kosten anderer.

„Visionen für 30 Jahre“

Angela Merkel sitzt nur wenige Meter entfernt vom Rednerpult, die Kanzlerin lässt sich nichts anmerken. Auch nicht, als Macron eine Mahnung nachschiebt, die als Spitze gegen Merkels Methode der kleinen Schritte verstanden werden darf: Erst brauche man „Visionen für 30 Jahre“, fordert der Präsident – dann könne man mit kleinen Schritten dorthin steuern.

Macron erhält Aachener Karlspreis

Emmanuel Macron erhält für seine Verdienste um die europäische Einigung in Aachen den Internationalen Karlspreis. Seine Ehefrau Brigitte (r.) begleitete ihn.
Emmanuel Macron erhält für seine Verdienste um die europäische Einigung in Aachen den Internationalen Karlspreis. Seine Ehefrau Brigitte (r.) begleitete ihn. © REUTERS | WOLFGANG RATTAY
Gute Stimmung: Angela Merkel (l.) hielt die Laudatio.
Gute Stimmung: Angela Merkel (l.) hielt die Laudatio. © REUTERS | WOLFGANG RATTAY
Sie wurde von Bischof Helmut Dieser begrüßt.
Sie wurde von Bischof Helmut Dieser begrüßt. © REUTERS | WOLFGANG RATTAY
Spaniens König Felipe (zweiter v.r.) auf dem Weg zur Verleihung im Aachener Dom.
Spaniens König Felipe (zweiter v.r.) auf dem Weg zur Verleihung im Aachener Dom. © REUTERS | WOLFGANG RATTAY
Auch weitere Staats- und Regierungschefs aus Luxemburg, Bulgarien, Kroatien oder der Ukraine kamen zum Karlspreis.
Auch weitere Staats- und Regierungschefs aus Luxemburg, Bulgarien, Kroatien oder der Ukraine kamen zum Karlspreis. © REUTERS | WOLFGANG RATTAY
Der Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi.
Der Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi. © REUTERS | WOLFGANG RATTAY
Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer (l.) und Daniel Cohn-Bendit (Grüne, r.) im Gespräch.
Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer (l.) und Daniel Cohn-Bendit (Grüne, r.) im Gespräch. © dpa | Patrik Stollarz
Ein Scharfschütze auf dem Dach des Aachener Rathauses. Wegen der angespannten Sicherheitslage und der Gästeliste waren die Sicherheitsvorkehrungen deutlich höher als in den vergangenen Jahren.
Ein Scharfschütze auf dem Dach des Aachener Rathauses. Wegen der angespannten Sicherheitslage und der Gästeliste waren die Sicherheitsvorkehrungen deutlich höher als in den vergangenen Jahren. © dpa | Henning Kaiser
Atomkraftgegner und Anhänger von „Pulse of Europe
Atomkraftgegner und Anhänger von „Pulse of Europe" demonstrierten vor dem Rathaus. © dpa | Henning Kaiser
Die Atomkraftgegner fordern Macron dazu auf, sich für die Schließung der umstrittenen Atomkraftwerke Doel bei Antwerpen und Tihange bei Aachen einzusetzen.
Die Atomkraftgegner fordern Macron dazu auf, sich für die Schließung der umstrittenen Atomkraftwerke Doel bei Antwerpen und Tihange bei Aachen einzusetzen. © REUTERS | THILO SCHMUELGEN
Emmanuel Macron bekam den Karlspreis vom Aachener Oberbürgermeister Marcel Philipp (r.) und dessen Vorgänger Jürgen Linden (l.) überreicht.
Emmanuel Macron bekam den Karlspreis vom Aachener Oberbürgermeister Marcel Philipp (r.) und dessen Vorgänger Jürgen Linden (l.) überreicht. © dpa | Ina Fassbender
In seiner Rede forderte Macron eine gemeinsame Europa-Vision für die nächsten 30 Jahre. Im Hintergrund zu sehen ist Martin Schulz (r.), Karlspreisträger aus dem Jahr 2015.
In seiner Rede forderte Macron eine gemeinsame Europa-Vision für die nächsten 30 Jahre. Im Hintergrund zu sehen ist Martin Schulz (r.), Karlspreisträger aus dem Jahr 2015. © REUTERS | WOLFGANG RATTAY
Bundeskanzlerin Angela Merkel würdigte in ihrer Laudatio Macrons Einsatz und Courage in der europäischen Debatte.
Bundeskanzlerin Angela Merkel würdigte in ihrer Laudatio Macrons Einsatz und Courage in der europäischen Debatte. © dpa | Ina Fassbender
Daumen hoch.
Daumen hoch. © dpa | Ina Fassbender
Nach der Verleihung zeigten sich Macron und Merkel auf dem Balkon des Aachener Rathauses. Rechts im Bild ist Spaniens König Felipe.
Nach der Verleihung zeigten sich Macron und Merkel auf dem Balkon des Aachener Rathauses. Rechts im Bild ist Spaniens König Felipe. © Getty Images, | Lukas Schulze
Feierlicher Abschluss des Karlspreises.
Feierlicher Abschluss des Karlspreises. © Getty Images, | Lukas Schulze
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Die offene Kritik am deutschen Sparkurs als „Fetisch“, die Distanz zu Merkels Politikstil sind neue Töne für den jungen Präsidenten. Mit der in weiten Teilen flammenden Rede bedankt sich Macron für den Aachener Karlspreis 2018, der ihm als „mutiger Vordenker für die Erneuerung des europäischen Traums“, für Verdienste um die Einheit Europas verliehen wird.

Lange versteckte Ungeduld

Aber Macron läutet hier auch eine neue Etappe seines europapolitischen Kurses ein: Über ein halbes Jahr hat der Präsident auf Deutschland und die Kanzlerin gewartet, um gemeinsam die Erneuerung der EU nach schweren Krisenjahren voranzubringen. Jetzt zeigt er offen die lange versteckte Ungeduld und demonstriert, dass er sich mit einem Karlspreis als Dankeschön nicht abspeisen lässt.

Zehntausende protestieren in Paris gegen Reformkurs von Macron

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    Merkel hat zuvor die Gelegenheit verstreichen lassen, bei der Zeremonie im Krönungssaal des Rathauses konkretere Antworten auf Macrons Vorschläge zu EU-Reformen zu geben. Dabei hatten die Karlspreis-Stifter der Kanzlerin vor wenigen Tagen intern ausrichten lassen, sie solle bitte keine Laudatio halten, sondern eine Ansprache zur Lage Europas.

    Appell an Merkel verhallt

    Merkel möge sich bitte endlich zu Macrons im September präsentierten Ideenkatalog positionieren, hieß es. Dieser Katalog reicht von der gemeinsamen Verteidigung mit EU-Einsatztruppe und eigenem Budget über ein europäisches Asylamt bis zu mehr Solidarität und Zusammenarbeit in der Eurozone.

    Aber so einfach lässt sich Merkel nicht aus der Reserve locken. In persönlichen Worten würdigt sie Macrons Begeisterung, Einsatz und Courage: „Du sprühst vor Ideen und hast die europapolitische Debatte mit neuen Vorschlägen neu belebt“, sagt sie. Deutschland sei mit Frankreich überzeugt, „dass wir einen neuen Aufbruch in Europa brauchen“. Europa müsse sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, die gemeinsame Außenpolitik stecke aber noch in den Kinderschuhen. Inhaltliche Festlegungen vermeidet die Kanzlerin konsequent.

    Minimalkonsens zur Bankenunion

    Bei der Reform der Eurozone, um den Schutz gegen künftige Krisen zu verbessern, bleibt sie besonders vage, spricht von schwierigen Diskussionen, verweist auf die unterschiedliche finanzpolitische Kultur beider Länder. Merkel versichert, bis Juni würden Berlin und Paris Lösungen präsentieren. Nach dem jetzigen Stand, sagen Eingeweihte in Brüssel, wird ein Minimalkonsens zur Bankenunion vorgelegt, mehr nicht.

    Merkel und Macron für Reform der Eurozone

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      Macron aber kämpft jetzt für seine Ideen: „Wir müssen aus den Tabus und Ängsten herauskommen“, mahnt er und ruft: „Seien wir nicht schwach.“ Bei seinen Reformvorschlägen etwa zu einem Haushalt für die Eurozone gehe es nicht um Frankreichs Vorteil oder ein Europa der Defizite. „Frankreich will ein Europa um Europas Willen.“ Und dieses Europa brauche mehr Solidarität als bisher.

      „Deutschland hat ein Tabu“

      Am Vorabend spricht er in Aachen im Interview mit der ARD und der Deutschen Welle Klartext: „Deutschland hat ein Tabu. Das sind die Transferleistungen. Doch ohne geht es nicht.“ Eine Eurozone ohne Transfers werde „nicht lange funktionieren“. Und auch wenn der Präsident versichert, von Merkel nicht enttäuscht zu sein, so macht er doch klar: „Ich warte auf eine deutsche Antwort.“

      Trump und Macron: Ziemlich beste Freunde

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        In Aachen ist der Rückhalt für ihn groß. Macron sei ein „Glücksfall“ für Europa, hat am Vortag beim Karlspreis-Forum der Philosoph Peter Sloterdijk erklärt. Seine Meinung wird von vielen Diskutanten geteilt: Deutschland könne mit seiner Zögerlichkeit eine einmalige Chance für Europa verspielen.

        Merkels Spielraum ist jetzt kleiner

        Aus Merkels Sicht indes ist die Lage komplizierter. Vieles von dem, was Macron jetzt fordert, war die Kanzlerin vor fünf Jahren bereit zu tun – damals scheiterte unter anderem ein eigenes Eurozonen-Budget an Macrons Vorgänger François Hollande, der kalte Füße bekam, weil er im Gegenzug Reformen daheim zusagen sollte.

        Macron ist konsequenterweise diesmal in Vorleistung gegangen. Aber nun ist Merkels Spielraum kleiner: Sie hat nicht nur mit massiven Bedenken in der Unionsfraktion zu kämpfen – auch der Widerwillen mancher EU-Staaten gegen mehr Solidarität in der Eurozone ist gewachsen. Unter Führung der Niederlande hat sich eine Allianz von acht Ländern gegen Macrons Pläne gebildet.

        Die Bundesregierung steht im Zwiespalt zwischen französischem Drängen und dem eigenen Rollenverständnis, die EU zusammenzuhalten. Macron indes hält das Vorpreschen einiger Staaten für die bessere Strategie: „Es ist die Verantwortung Deutschlands und Frankreichs, die Länder mitzuziehen, die folgen wollen.“