Holocaust-Überlebende erinnert im Bundestag an Nazi-Gräuel
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Von Anne Diekhoff
Berlin. Anita Lasker-Wallfisch überlebte Auschwitz, weil sie Cello spielte. Beim Holocaust-Gedenken im Bundestag hielt sie eine bewegende Rede.
Samstags wurden im Hause Lasker die Klassiker gelesen, und der Vater erzählte von seinen Fronterlebnissen im ersten Weltkrieg. Sonntags dann, so wollte es die Tradition, wurde nur Französisch gesprochen: ein bildungsbürgerliches Familienidyll in Breslau, Deutschland, 30er-Jahre. Anita Lasker-Wallfisch schildert mit ihrer ruhigen, dunklen Stimme, wie es zerstört wurde. „Das Idyll war zu Ende. Radikale Ausgrenzung. Wir durften nicht mehr ins Schwimmbad, nicht mehr auf Parkbänken sitzen. Wir mussten unsere Wohnung räumen.“
Sie spricht die Sprache ihrer Kindheit mit eloquenter Würde. Es ist auch die Sprache derjenigen, die ihre Eltern ermordet haben und sechs Millionen weitere Juden. Mit 17 wurde Anita Lasker im Dezember 1943 von Breslau in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Sie ist eine der wenigen, die noch vom eigenen Überleben dieses größten vorstellbaren Verbrechens an der Menschheit erzählen können.
Cello spielen rettete Anita Lasker-Wallfischs Leben
Am Mittwoch spricht sie auf Einladung des Bundestags bei dessen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Anlass ist der Jahrestag der Auschwitz-Befreiung durch sowjetische Truppen. Am 27. Januar waren 73 Jahre vergangen. Mit bewegender Klarheit fasst die 92-jährige Anita Lasker-Wallfisch zusammen, was sie „ihre Karriere als Überlebende von Auschwitz und Bergen-Belsen“ nennt. Sie scherzt und bleibt dabei unmissverständlich ernst.
69388: Das war ihre Häftlingsnummer. Bei der Ankunft in Auschwitz wurde sie ihr auf den Arm tätowiert. Von Mitgefangenen, die neu Angekommene registrierten, einwiesen – und ausfragten. Die 17-jährige Anita erzählte ihnen, dass sie Cello spielen könne. Ihre Rettung, denn die Lagerkommandanten ließen mitten in der Mordmaschinerie gerne musizieren. Der Zynismus darin schreit zum Himmel. Ihr rettete es das Leben.
„Kolonnen von Menschen, die Richtung Gaskammer gingen“
Lasker kam in das Mädchenorchester von Auschwitz-Birkenau, dessen Gründung die SS 1943 befohlen hatte. Es spielte am Lagertor, wenn die Gefangenen-Arbeitskommandos morgens und abends hindurchliefen. Es spielte auch für die SS, zur Unterhaltung an den Wochenenden. „Die Kapelle wohnte auf Block 12, nur ein paar Meter von Krematorium I entfernt. Und mit einem unbeschränkten Blick auf die Rampe“, erzählt Lasker-Wallfisch. Sie hätten alles sehen können. „Die Kolonnen von Menschen, die Richtung Gaskammer gingen und in Rauch verwandelt wurden.“
Anitas Eltern, der Rechtsanwalt und Notar Alfons Lasker und die Geigerin Edith Lasker, waren schon 1942 deportiert und ermordet worden. Die älteste Schwester Marianne war 1939 mit einem Kindertransport nach England in Sicherheit gelangt. Zurück in Breslau blieben Anita und die anderthalb Jahre ältere Renate.
„Hass ist ein Gift, und letzten Endes vergiftet man sich selbst“
Mit selbst gefälschten französischen Pässen versuchten sie 1943, nach Frankreich zu fliehen. Doch schon am Bahnhof wurden sie von der Gestapo verhaftet – und vor ein Gericht gestellt. „Ein Riesenglück“, sagt Lasker-Wallfisch. Denn „Verbrecher bekamen einen Prozess, Juden waren Freiwild“. Sie und ihre Schwester saßen zuerst in verschiedenen Gefängnissen, bevor sie doch noch ins Konzentrationslager gebracht wurden. „Wer hätte gedacht, dass wir Auschwitz lebendig und nicht als Rauch verlassen würden.“ Sie überlebten auch noch ein halbes Jahr im KZ Bergen-Belsen.
Ein Triumph, der die Musikerin mit Hass auf alles Deutsche zurückließ. „Ich wollte nie wieder deutschen Boden betreten. Wie Sie sehen, bin ich einsichtig geworden“, sagt die Cellistin am Mittwoch. „Hass ist ganz einfach ein Gift, und letzten Endes vergiftet man sich selbst.“
Anita Lasker-Wallfisch warnt vor neuem Antisemitismus
1946 kam sie nach London, wurde Mitbegründerin des heute weltweit renommierten English Chamber Orchestra, heiratete den Pianisten Peter Wallfisch. Die beiden bekamen zwei Kinder. Sohn Raphael Wallfisch wurde auch Cellist – er spielte jetzt im Bundestag, wo seine Mutter nicht nur den Umgang Deutschlands mit der Erinnerungskultur lobte, sondern auch vor Holocaustleugnern und neuem Antisemitismus der Gegenwart warnte.
Bei der Erinnerung an den Holocaust gehe es nicht um Schuldgefühle. Sondern darum, dafür zu sorgen, dass so etwas „nie, aber auch nie wieder geschehen kann“. Ähnlich hatte es sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seiner Begrüßungsrede geäußert. „Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Demokratie brauchen unser Engagement“, betonte er.