Berlin/Essen/Hamburg. Der türkische Präsident Erodgan bekämpft politische Gegner auch in Deutschland. Doch deutsche Behörden kommen dagegen nur mühsam an.
Das Schreiben, mit dem Erdogans Leute nach dem gescheiterten Putschversuch den Kampf gegen politische Gegner auch in Deutschland verschärfen wollen, trägt die Überschrift: „Nur für den Dienstgebrauch“, eine geheime Anweisung. Die deutschen Behörden und Medien sollen nicht erfahren, wie die türkischen Botschaften und Konsulare ihre Informanten gegen Recep Tayyip Erdogans Erzfeind, die Gülen-Bewegung, in Stellung bringen. Am 20. September 2016 versendet Professor Halife Keskin den Brief an die diplomatischen Vertretungen in Deutschland und anderen Staaten wie Österreich und der Schweiz.
Keskin leitet die Abteilung Auslandsangelegenheiten der Diyanet, der staatlichen Religionsbehörde in der Türkei. Das Schreiben liegt unserer Redaktion vor. In dem Papier fordert der ranghohe Beamte „einen detaillierten Bericht über jegliche Arten der Organisationsstruktur, Aktivitäten, Bildungseinrichtungen“ der Gülen-Bewegung in Deutschland.
Und das trägt Früchte: Bis Juli 2017, so das Bundesinnenministerium, sind „in den Berichten der türkischen Generalkonsulate Düsseldorf, Köln und München mindestens 46 Personen türkischer bzw. türkischstämmiger Herkunft aufgeführt“, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger gelten. Die türkische Regierung vermutet hinter der umstrittenen Bewegung des Predigers Fethullah Gülen die Drahtzieher für den gescheiterten Putsch vom Juli 2016.
Bisher ist keine Anklage gegen Imame erhoben
Deutschland wird zu einer Front im Kampf um die Macht in der Türkei. Aus Ankara hat die Regierung ein Informationsnetz aufgebaut – im Zentrum stehen die diplomatischen Vertretungen und der ihnen unterstellte Dachverband Ditib, mit seinen fast 1000 Gemeinden ist er der größte Verband von Moscheen in Deutschland. Die Religionsbehörde in Ankara entsendet die Imame, sie sind Staatsbeamte und von der Türkei bezahlt. Mehrere Geistliche sollen für Erdogans System spioniert haben, so der Vorwurf der deutschen Justiz.
Diese Deutschen waren in türkischer Haft
Die bestimmenden Figuren in dem Fall sollen die Religionsattachés der Regierung Erdogan sein. Laut Insidern werden sie in der Regel jeweils für drei bis vier Jahre nach Deutschland entsandt – und gelten größtenteils als Karrieristen, die sich in dieser Zeit für höhere Aufgaben empfehlen wollen. Und im Regierungssitz in Ankara kann man sich derzeit sehr empfehlen, wenn man Gülen-Anhänger ausfindig macht.
Doch nicht nur mutmaßliche Gülenisten stünden im Visier der Imame, sondern auch unliebsame Gemeindemitglieder von Ditib, Politiker und Lehrer, so der Vorwurf. Seit Monaten laufen mehrere Verfahren beim Generalbundesanwalt (GBA) in Karlsruhe gegen türkische Staatsbürger wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit, Paragraf 99 Strafgesetzbuch.
Doch bisher ist keine Anklage erhoben worden. Offenbar stocken die Ermittlungen. Und die Bundesregierung schreibt auf Nachfrage unserer Redaktion: Man könne nicht ausschließen, dass Imame und Botschaftsmitarbeiter weiterhin Kritiker der Erdogan-Regierung beobachten und Berichte darüber nach Ankara schicken. „Anhaltspunkte“ würden dem Innenministerium aktuell dafür jedoch nicht vorliegen.
Der türkische Geheimdienst bitte um Hilfe
Diese Redaktion hat sowohl deutsche als auch türkische nicht-öffentliche Schreiben sowie Drucksachen des Parlaments eingesehen, hat mit Justiz- und Sicherheitsbehörden, der Bundesregierung und deutschen Politikern, aber auch einzelnen Ditib-Funktionären gesprochen. Fälle aus den vergangenen Monaten zeigen zudem, wie die Regierung Ankara ihren Kampf gegen Oppositionelle, Kritiker, Kurden und Gülen-Anhänger nicht nur auf die Türkei begrenzt – sie verfolgt sie bis in die EU, bis nach Deutschland.
Im März wurde bekannt, dass der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT dem Bundesnachrichtendienst eine Liste mit rund 300 Namen in Deutschland lebender angeblicher Gülen-Anhänger übergeben hat – mit der Hoffnung, der BND werde den MIT unterstützen. Darunter Handynummern, Adressen und teilweise Fotos. Nun ermittelt auch in diesem Fall die Bundesanwaltschaft. Nicht gegen die „Gülenisten“, sondern wegen mutmaßlicher Spionage durch türkische Agenten, die die Namensliste zusammengetragen haben sollen.
Erst vor wenigen Tagen war
Auch interessant
worden. Die Türkei wollte mit Hilfe der grenzübergreifende Polizeibehörde Interpol die Auslieferung erzwingen. Akhanli war 1991 nach Deutschland geflüchtet.
Ein Mann aus Wuppertal sitzt in Haft
Das Vorgehen der türkischen Justiz trifft auch weniger bekannte Menschen.
Auch interessant
sitzt nach Recherchen dieser Redaktion nach einem angeblichen Anti-Erdogan-Posting auf Facebook seit diesem Sommer in der Türkei fest, als er dort Urlaub gemacht hatte.
Auch interessant
Seit dem gescheiterten gewaltsamen Machtwechsel im Sommer hat der türkische Staat per Notstandsdekret allein weit mehr als 100.000 Staatsbeamte entlassen. Offiziell heißt es, die Personen würden verdächtigt, Kontakte zum Gülen-Netzwerk zu haben. Der in den USA im Exil lebende islamische Prediger Fethullah Gülen ist umstritten, agiert für Experten in Teilen wie eine Sekte. Auch manche deutsche Politiker fordern eine Beobachtung der Bewegung durch den Verfassungsschutz. Doch hiesigen Sicherheitsbehörden gilt die Bewegung weder als terroristische noch als extremistisch. Der BND sieht auch keine Mitverantwortung am Putschversuch. Erdogan sieht das anders – und verfolgt Gülen-Anhänger mit allen Mitteln.
Mehr Türken suchen Schutz in Deutschland
Politiker, Aktivisten, Künstler, Professoren und Generäle – immer mehr Menschen haben Angst vor Staatswillkür und Repressionen, viele sind in die EU geflohen. Zu zwei türkischen Richtern in Deutschland hat unsere Redaktion Kontakt. Auf Nachfrage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) heißt es: Allein im ersten Halbjahr 2017 haben mehr als 3.000 Türken Asyl beantragt. 2015, vor dem Putschversuch, waren es im gesamten Jahr nur 1767 Anträge.
Im vergangenen August, kurz nach dem gescheiterten Sturz Erdogans, verschickt das Bundesjustizministerium eine Anweisung an alle Landesministerien. Tenor: Sollten türkische Behörden Rechtshilfeersuche an deutsche Gerichte oder Staatsanwaltschaften stellen, in denen es um angebliche politische Straftaten von Türken gehe oder um die Mitgliedschaft bei Gülen, sei dies zunächst von höchster Stelle zu prüfen: dem Bundesamt für Justiz. Im Januar legt die Bundesregierung nach. Die Rechtshilfe wird bei politischen Fällen vorerst ganz gestoppt.
Die deutschen Gerichte sollen nicht zum verlängerten Arm der Erdogan-Regierung werden. Das gilt auch für Auslieferungsgesuch durch die Türkei. Auf Nachfrage beim Bundesamt für Justiz gingen dort in 2017 bisher 53 Fälle ein, in denen Türken in Deutschland wegen eines Verfahrens in der Türkei ausgeliefert werden sollten. 2016 waren es im ganzen Jahr 52. Auch hier erhöht die Justiz in Ankara offenbar den Druck. Und die deutsche Behörden reagieren mit Vorsicht. Jeder Antrag auf Auslieferung werde geprüft, heißt es. In vielen Fällen gehe es etwa um Drogendelikte oder Körperverletzung, aber in anderen offenbar auch um Politik. Die deutschen Behörden prüfen nach eigenen Angaben zudem die Haft- und Prozessbedingungen in der Türkei. Nur sechs Personen lieferte Deutschland bisher in diesem Jahr in die Türkei aus.
Die Karriere von Recep Tayyip Erdogan
Hinweise auf politische Verfahren
Auch eine Anfrage dieser Redaktion an die Bundesländer gibt keinen Aufschluss darüber, wie stark die türkische Justiz versucht, politische Gegner mit Hilfe deutscher Gerichte zu verfolgen. Statistiken liegen in vielen Ministerien nicht vor. Es gibt nur Indizien, so wie die Antwort eines Sprechers aus Rheinland-Pfalz: Dort seien „in letzter Zeit einige Fälle bekannt geworden“, in denen türkische Behörden um Hilfe bei Auslieferungen gebeten hätten. Vor allem im Zusammenhang mit der Gülen-Bewegung. Diese seien allerdings alle abgelehnt worden.
So bleibt Erdogans Regierung im Kampf gegen Kritiker und mutmaßliche Extremisten vor allem das eigene Netzwerk – die Staatsbediensteten in Deutschland und einzelne Imame. Doch nicht alle ziehen mit. Vor allem in den Monaten nach dem Putschversuch tobt bei dem Moscheebetreiber Ditib nach Informationen dieser Redaktion bundesweit ein Machtkampf. „Die Spitzen der Landesverbände sehen Ditib mehrheitlich als zivilgesellschaftlichen Akteur, der nach Deutschland gehört – die Attachés eher als politisches Instrument zur Wahrung von Interessen“, sagt ein leitender Ditib-Angestellter. Die mutmaßlichen Spitzeleien von Mitarbeitern werden auch intern teilweise äußerst kritisch gesehen. In einer der größten deutschen Städte entwarf ein Attaché im Konsulat etwa detaillierte Handlungsanweisungen für Imame in Ditib-Moscheen, die bestimmte Informationen sammeln sollten – ein hochrangiger Diplomat vor Ort stoppte das Vorhaben schließlich.
Reformer oder Hardliner – wer setzt sich durch?
Nach Informationen unserer Redaktion wollen die Reformer innerhalb von Ditib eine neue Struktur erreichen, um den Moscheebetreiber unabhängiger von der Regierung in Ankara zu machen. Die bisherige Ditib-Spitze hat entsprechende Abstimmungen aber wiederholt verschoben.
In vielen Bundesländern arbeiten die deutschen Behörden eng mit Ditib zusammen, etwa bei Programmen zur Integration oder Deradikalisierung von Extremisten. Daran hat auch die Spionage-Affäre nichts geändert. Zwar setzte die Bundesregierung die Zahlungen an den Dachverband kurzzeitig aus. Doch eine Prüfung des Familienministeriums habe ergeben, dass keine Verbindungen zwischen den geförderten Projekten und den vom Ermittlungsverfahren betroffenen Imamen bestünden, teilt ein Sprecher auf Nachfrage mit. Der Bund fördert Ditib mittlerweile wieder: in 2017 mit insgesamt mehr als einer Million Euro.
Die Affäre um Ditib zeigt jedoch auch, dass dem deutschen Staat Fehler bei der Suche nach möglichen Spionen unterlaufen sind. Und dass die Sicherheitsbehörden nur begrenzt Einblick in die Aktivitäten einzelner Moscheen haben. Anklage erhob die Staatsanwaltschaft bisher gegen keinen einzigen Imam. Die Belege reichen nicht aus.
Post des Verfassungsschutzes
Ende Mai gibt die Bundesregierung auf Anfrage der Opposition im Bundestag an, dass elf Tatverdächtige bereits in Richtung Türkei ausgereist seien – acht von ihnen noch nach Beginn der Ermittlungen. Acht hielten sich noch in Deutschland auf. Haftbefehle der Staatsanwaltschaft lehnte der Ermittlungsrichter aus Mangel an belastbaren Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden schon einmal ab. Eine Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft sagte unserer Redaktion nun: „Der Erfolg unserer Ermittlungen hängt derzeit vor allem davon ab, welche Erkenntnisse und Belege wir von den deutschen Spionageabwehrbehörden bekommen.“ Offenbar wartet man in Karlsruhe auf Post der Sicherheitsdienste.
Doch ob vom Verfassungsschutz derzeit überhaupt Behördenzeugnisse mit Indizien oder Beweisen an die Staatsanwälte gehen, ist unklar. Beim Geheimdienst gibt man sich auf Nachfrage wortkarg. Der Dienst will sich einerseits nicht in die Karten schauen lassen. Andererseits liefert der Verfassungsschutz in vielen Fällen der Spionagevorwürfe häufig nur Indizien, sagen selbst Sicherheitsleute. Gerichtsfeste Beweise sind schwer zu generieren. Wie viele Informationen ein Geheimdienst gewinnen kann, hängt auch davon ab, ob ein Verein oder eine Gruppe „Beobachtungsobjekt“ ist. Ditib war es nie. Alles, was zudem in Botschaften passiert, bleibt für den Verfassungsschutz in der Regel nicht zugänglich.
Und der Staatsanwaltschaft unterliefen selbst Fehler. Rückblick: Februar 2017. Weil sich der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim in Oberhausen angekündigt hat, bereitet sich die Stadt auf einen Ansturm von Erdogan-Anhängern vor. Yildirim wirbt für die Verfassungsreform zum Präsidialsystem, das Erdogan mehr Macht verleihen soll. Unmittelbar vor dem Auftritt erreicht den Grünen-Bundestagsabgeordneten Volker Beck ein vertraulicher Hinweis aus der muslimischen Community: Halife Keskin, der Chef der Religionsbehörde und mutmaßliche Schlüsselfigur in der Spionageaffäre, der auch das Schreiben an die Attachés aufgesetzt hatte, sei im Kölner Raum und im Ruhrgebiet unterwegs.
Volker Beck hakt nach
Am 18. Februar informiert Beck den Generalbundesanwalt und das Bundeskriminalamt. „Halife Keskin ist seit einigen Tagen in Deutschland und trommelte die Attachés zusammen. U.a. um die Ditib-Basis für die Oberhausen-Veranstaltung zu mobilisieren“, teilt der Grüne den Sicherheitsbehörden mit und fordert diese zum Eingreifen auf: „Wenn jemand für eine Aussage eingeladen werden sollte, dann derjenige, der diese Anordnung, die alles ausgelöst hat, unterzeichnet hat.“
Da läuft bereits ein Strafverfahren wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit im Zusammenhang mit Ditib. Beck hakt nach, will von der Bundesregierung wissen, warum nicht Yildirim, mindestens aber Keskin, vernommen worden sei. Yildirim genieße Immunität, antwortet ihm das Justizministerium. Zu Keskin geben das Bundeskanzleramt, das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium im Nachhinein an, sie hätten „keine Erkenntnisse“ über dessen Aufenthalt in Deutschland.
----------------------------------------
Auch interessant
Auch interessant
Auch interessant
----------------------------------------
Der Grünen-Politiker hatte die Behörden per Email und per Fax über Keskins Tour durch NRW informiert. Doch keine seiner Nachrichten soll bei den Behörden angekommen sein. Laut Justiz-Staatssekretär Lange ist die Mail beim GBA gelöscht worden – versehentlich. Das Fax sei nie in Karlsruhe aufgefunden worden. Auch die Mail an das BKA sei unauffindbar.
Keskin ist längst weg
Das Loch im Posteingang der Sicherheitsbehörden schlägt Wellen. Die Bundesregierung fordert Generalbundesanwalt Peter Frank auf, „diesen Vorkommnissen sofort nachzugehen und umgehend für organisatorische Konsequenzen zu sorgen“. Danach ist von „Sofortmaßnahmen“ die Rede – und davon, „dass sich ein solcher Vorgang nicht wiederholen kann“. Über die Frage, „ob der Herr Generalbundesanwalt Ermittlungen anstellen lässt“ gegen Keskin, darüber „wurde nicht gesprochen“, heißt es aus dem Justizministerium. Das passiert erst kurz darauf, im März. Laut Medienberichten beginnt die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen ihn wegen des Verdachts auf geheimdienstliche Agententätigkeit. Sofern Keskin je in Deutschland war, ist er nun längst wieder in der Türkei.