Berlin/Essen/Hamburg. Der türkische Präsident Erodgan bekämpft politische Gegner auch in Deutschland. Doch deutsche Behörden kommen dagegen nur mühsam an.

Das Schreiben, mit dem Erdogans Leute nach dem gescheiterten Putschversuch den Kampf gegen politische Gegner auch in Deutschland verschärfen wollen, trägt die Überschrift: „Nur für den Dienstgebrauch“, eine geheime Anweisung. Die deutschen Behörden und Medien sollen nicht erfahren, wie die türkischen Botschaften und Konsulare ihre Informanten gegen Recep Tayyip Erdogans Erzfeind, die Gülen-Bewegung, in Stellung bringen. Am 20. September 2016 versendet Professor Halife Keskin den Brief an die diplomatischen Vertretungen in Deutschland und anderen Staaten wie Österreich und der Schweiz.

Keskin leitet die Abteilung Auslandsangelegenheiten der Diyanet, der staatlichen Religionsbehörde in der Türkei. Das Schreiben liegt unserer Redaktion vor. In dem Papier fordert der ranghohe Beamte „einen detaillierten Bericht über jegliche Arten der Organisationsstruktur, Aktivitäten, Bildungseinrichtungen“ der Gülen-Bewegung in Deutschland.

Und das trägt Früchte: Bis Juli 2017, so das Bundesinnenministerium, sind „in den Berichten der türkischen Generalkonsulate Düsseldorf, Köln und München mindestens 46 Personen türkischer bzw. türkischstämmiger Herkunft aufgeführt“, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger gelten. Die türkische Regierung vermutet hinter der umstrittenen Bewegung des Predigers Fethullah Gülen die Drahtzieher für den gescheiterten Putsch vom Juli 2016.

Bisher ist keine Anklage gegen Imame erhoben

Deutschland wird zu einer Front im Kampf um die Macht in der Türkei. Aus Ankara hat die Regierung ein Informationsnetz aufgebaut – im Zentrum stehen die diplomatischen Vertretungen und der ihnen unterstellte Dachverband Ditib, mit seinen fast 1000 Gemeinden ist er der größte Verband von Moscheen in Deutschland. Die Religionsbehörde in Ankara entsendet die Imame, sie sind Staatsbeamte und von der Türkei bezahlt. Mehrere Geistliche sollen für Erdogans System spioniert haben, so der Vorwurf der deutschen Justiz.

Diese Deutschen waren in türkischer Haft

Der Türkei-Korrespondent der „Welt“, Deniz Yücel, saß seit Ende Februar 2017 in der Türkei in Untersuchungshaft. Nach 367 Tagen wurde er aus türkischer Haft entlassen. Dem deutsch-türkischen Journalisten und Publizisten wurde wie zahlreichen anderen Medienvertretern Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen. Unter dem nach dem Putschversuch im Sommer 2016 von Staatschef Recep Tayyip Erdogan verhängten Ausnahmezustand gehen die türkischen Behörden rigoros gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung vor. Die gilt in der Türkei als Terrororganisation.
Der Türkei-Korrespondent der „Welt“, Deniz Yücel, saß seit Ende Februar 2017 in der Türkei in Untersuchungshaft. Nach 367 Tagen wurde er aus türkischer Haft entlassen. Dem deutsch-türkischen Journalisten und Publizisten wurde wie zahlreichen anderen Medienvertretern Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen. Unter dem nach dem Putschversuch im Sommer 2016 von Staatschef Recep Tayyip Erdogan verhängten Ausnahmezustand gehen die türkischen Behörden rigoros gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung vor. Die gilt in der Türkei als Terrororganisation. © dpa | Soeren Stache
Deniz Yücel und seine Frau Dilek Mayatuerk kurz nach der Freilassung aus dem Gefängnis. Die Freilassung Yücels wurde von einem Gericht angeordnet, nachdem die türkische Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vorgelegt hatte.
Deniz Yücel und seine Frau Dilek Mayatuerk kurz nach der Freilassung aus dem Gefängnis. Die Freilassung Yücels wurde von einem Gericht angeordnet, nachdem die türkische Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vorgelegt hatte. © REUTERS | HANDOUT
#FreeDeniz: Diese Solidaritätsbekundung – aufgedruckt auf einem T-Shirt – forderte die Freilassung Yücels.
#FreeDeniz: Diese Solidaritätsbekundung – aufgedruckt auf einem T-Shirt – forderte die Freilassung Yücels. © picture alliance / Eventpress | dpa Picture-Alliance /
Die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu saß fast acht Monate in der Türkei in Untersuchungshaft. Sie war am 30. April 2017 festgenommen worden, als Polizisten einer Anti-Terror-Einheit ihre Istanbuler Wohnung stürmten. Ihr wird laut Haftbefehl vorgeworfen, Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt.
Die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu saß fast acht Monate in der Türkei in Untersuchungshaft. Sie war am 30. April 2017 festgenommen worden, als Polizisten einer Anti-Terror-Einheit ihre Istanbuler Wohnung stürmten. Ihr wird laut Haftbefehl vorgeworfen, Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt. © dpa | Lefteris Pitarakis
Mehr als fünf Monate nach Festnahme der Mutter eines Sohnes startete am 11. Oktober der Prozess. Am 18. Dezember 2017 entschied dann ein Gericht: Tolu darf die U-Haft verlassen, die Türkei aber nicht verlassen. Ende August dann die Erlösung: Tolu darf zurück nach Deutschland. Die Ausgangsperre wurde aufgehoben. Der Prozess werde allerdings weitergeführt.
Mehr als fünf Monate nach Festnahme der Mutter eines Sohnes startete am 11. Oktober der Prozess. Am 18. Dezember 2017 entschied dann ein Gericht: Tolu darf die U-Haft verlassen, die Türkei aber nicht verlassen. Ende August dann die Erlösung: Tolu darf zurück nach Deutschland. Die Ausgangsperre wurde aufgehoben. Der Prozess werde allerdings weitergeführt. © Facebook/Mesale Tolu | Facebook/Mesale Tolu
Ihr ebenfalls wegen Terrorverdacht inhaftierter Ehemann Suat Corlu, der im selben Verfahren angeklagt ist, wurde Ende November 2017 aus türkischer Haft entlassen. Er muss vorerst in der Türkei bleiben.
Ihr ebenfalls wegen Terrorverdacht inhaftierter Ehemann Suat Corlu, der im selben Verfahren angeklagt ist, wurde Ende November 2017 aus türkischer Haft entlassen. Er muss vorerst in der Türkei bleiben. © dpa | Linda Say
Nach mehr als drei Monaten Untersuchungshaft wurde der Berliner Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner am 25. Oktober 2017 entlassen. Ein Gericht in Istanbul hatte die Freilassung ohne Auflagen beschlossen. Auch die mitangeklagten türkischen Menschenrechtler, die in Untersuchungshaft waren, wurden bis zu einem Urteil in dem Verfahren auf freien Fuß gesetzt, teilweise aber unter Auflagen.
Nach mehr als drei Monaten Untersuchungshaft wurde der Berliner Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner am 25. Oktober 2017 entlassen. Ein Gericht in Istanbul hatte die Freilassung ohne Auflagen beschlossen. Auch die mitangeklagten türkischen Menschenrechtler, die in Untersuchungshaft waren, wurden bis zu einem Urteil in dem Verfahren auf freien Fuß gesetzt, teilweise aber unter Auflagen. © dpa | Emrah Gurel
Steudtners (2 v.r.) schwedischer Kollege, Ali Gharavi (2 v.l.), durfte auch das Hochsicherheitsgefängnis Silivri verlassen. Steudtner sagte vor Journalisten: „Wir sind allen sehr dankbar, die uns rechtlich, diplomatisch und mit Solidarität unterstützt haben.“
Steudtners (2 v.r.) schwedischer Kollege, Ali Gharavi (2 v.l.), durfte auch das Hochsicherheitsgefängnis Silivri verlassen. Steudtner sagte vor Journalisten: „Wir sind allen sehr dankbar, die uns rechtlich, diplomatisch und mit Solidarität unterstützt haben.“ © REUTERS | OSMAN ORSAL
Steudtner war am 5. Juli 2017 bei einem Workshop auf den Istanbuler Prinzeninseln festgenommen worden.
Steudtner war am 5. Juli 2017 bei einem Workshop auf den Istanbuler Prinzeninseln festgenommen worden. © dpa | Privat
Der türkischstämmige Unternehmer Özel Sögüt aus Siegen ist im Dezember 2016 verhaftet worden. Mittlerweile ist er aus dem Gefängnis entlassen worden, darf aber die Türkei nicht verlassen. Ihm wird vorgeworfen, der Gülen-Bewegung anzugehören.
Der türkischstämmige Unternehmer Özel Sögüt aus Siegen ist im Dezember 2016 verhaftet worden. Mittlerweile ist er aus dem Gefängnis entlassen worden, darf aber die Türkei nicht verlassen. Ihm wird vorgeworfen, der Gülen-Bewegung anzugehören. © privat | privat
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Die bestimmenden Figuren in dem Fall sollen die Religionsattachés der Regierung Erdogan sein. Laut Insidern werden sie in der Regel jeweils für drei bis vier Jahre nach Deutschland entsandt – und gelten größtenteils als Karrieristen, die sich in dieser Zeit für höhere Aufgaben empfehlen wollen. Und im Regierungssitz in Ankara kann man sich derzeit sehr empfehlen, wenn man Gülen-Anhänger ausfindig macht.

Doch nicht nur mutmaßliche Gülenisten stünden im Visier der Imame, sondern auch unliebsame Gemeindemitglieder von Ditib, Politiker und Lehrer, so der Vorwurf. Seit Monaten laufen mehrere Verfahren beim Generalbundesanwalt (GBA) in Karlsruhe gegen türkische Staatsbürger wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit, Paragraf 99 Strafgesetzbuch.

Doch bisher ist keine Anklage erhoben worden. Offenbar stocken die Ermittlungen. Und die Bundesregierung schreibt auf Nachfrage unserer Redaktion: Man könne nicht ausschließen, dass Imame und Botschaftsmitarbeiter weiterhin Kritiker der Erdogan-Regierung beobachten und Berichte darüber nach Ankara schicken. „Anhaltspunkte“ würden dem Innenministerium aktuell dafür jedoch nicht vorliegen.

Der türkische Geheimdienst bitte um Hilfe

Diese Redaktion hat sowohl deutsche als auch türkische nicht-öffentliche Schreiben sowie Drucksachen des Parlaments eingesehen, hat mit Justiz- und Sicherheitsbehörden, der Bundesregierung und deutschen Politikern, aber auch einzelnen Ditib-Funktionären gesprochen. Fälle aus den vergangenen Monaten zeigen zudem, wie die Regierung Ankara ihren Kampf gegen Oppositionelle, Kritiker, Kurden und Gülen-Anhänger nicht nur auf die Türkei begrenzt – sie verfolgt sie bis in die EU, bis nach Deutschland.

Der in der Türkei geborene deutsche Schriftsteller Dogan Akhanli nach seiner Festnahme in Madrid.
Der in der Türkei geborene deutsche Schriftsteller Dogan Akhanli nach seiner Festnahme in Madrid. © dpa | Paul White

Im März wurde bekannt, dass der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT dem Bundesnachrichtendienst eine Liste mit rund 300 Namen in Deutschland lebender angeblicher Gülen-Anhänger übergeben hat – mit der Hoffnung, der BND werde den MIT unterstützen. Darunter Handynummern, Adressen und teilweise Fotos. Nun ermittelt auch in diesem Fall die Bundesanwaltschaft. Nicht gegen die „Gülenisten“, sondern wegen mutmaßlicher Spionage durch türkische Agenten, die die Namensliste zusammengetragen haben sollen.

Erst vor wenigen Tagen war

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worden. Die Türkei wollte mit Hilfe der grenzübergreifende Polizeibehörde Interpol die Auslieferung erzwingen. Akhanli war 1991 nach Deutschland geflüchtet.

Schriftsteller Dogan Akhanli über türkischen Haftbefehl

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    Das Vorgehen der türkischen Justiz trifft auch weniger bekannte Menschen.

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    sitzt nach Recherchen dieser Redaktion nach einem angeblichen Anti-Erdogan-Posting auf Facebook seit diesem Sommer in der Türkei fest, als er dort Urlaub gemacht hatte.

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    Seit dem gescheiterten gewaltsamen Machtwechsel im Sommer hat der türkische Staat per Notstandsdekret allein weit mehr als 100.000 Staatsbeamte entlassen. Offiziell heißt es, die Personen würden verdächtigt, Kontakte zum Gülen-Netzwerk zu haben. Der in den USA im Exil lebende islamische Prediger Fethullah Gülen ist umstritten, agiert für Experten in Teilen wie eine Sekte. Auch manche deutsche Politiker fordern eine Beobachtung der Bewegung durch den Verfassungsschutz. Doch hiesigen Sicherheitsbehörden gilt die Bewegung weder als terroristische noch als extremistisch. Der BND sieht auch keine Mitverantwortung am Putschversuch. Erdogan sieht das anders – und verfolgt Gülen-Anhänger mit allen Mitteln.

    Mehr Türken suchen Schutz in Deutschland

    Politiker, Aktivisten, Künstler, Professoren und Generäle – immer mehr Menschen haben Angst vor Staatswillkür und Repressionen, viele sind in die EU geflohen. Zu zwei türkischen Richtern in Deutschland hat unsere Redaktion Kontakt. Auf Nachfrage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) heißt es: Allein im ersten Halbjahr 2017 haben mehr als 3.000 Türken Asyl beantragt. 2015, vor dem Putschversuch, waren es im gesamten Jahr nur 1767 Anträge.

    Im vergangenen August, kurz nach dem gescheiterten Sturz Erdogans, verschickt das Bundesjustizministerium eine Anweisung an alle Landesministerien. Tenor: Sollten türkische Behörden Rechtshilfeersuche an deutsche Gerichte oder Staatsanwaltschaften stellen, in denen es um angebliche politische Straftaten von Türken gehe oder um die Mitgliedschaft bei Gülen, sei dies zunächst von höchster Stelle zu prüfen: dem Bundesamt für Justiz. Im Januar legt die Bundesregierung nach. Die Rechtshilfe wird bei politischen Fällen vorerst ganz gestoppt.

    Die deutschen Gerichte sollen nicht zum verlängerten Arm der Erdogan-Regierung werden. Das gilt auch für Auslieferungsgesuch durch die Türkei. Auf Nachfrage beim Bundesamt für Justiz gingen dort in 2017 bisher 53 Fälle ein, in denen Türken in Deutschland wegen eines Verfahrens in der Türkei ausgeliefert werden sollten. 2016 waren es im ganzen Jahr 52. Auch hier erhöht die Justiz in Ankara offenbar den Druck. Und die deutsche Behörden reagieren mit Vorsicht. Jeder Antrag auf Auslieferung werde geprüft, heißt es. In vielen Fällen gehe es etwa um Drogendelikte oder Körperverletzung, aber in anderen offenbar auch um Politik. Die deutschen Behörden prüfen nach eigenen Angaben zudem die Haft- und Prozessbedingungen in der Türkei. Nur sechs Personen lieferte Deutschland bisher in diesem Jahr in die Türkei aus.

    Die Karriere von Recep Tayyip Erdogan

    Recep Tayyip Erdogan wurde am 26. Juni 2018 zum zweiten Mal in Folge zum Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Zwei Wochen später hat er seinen Amtseid abgelegt und ist auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen. Bilder seiner Karriere.
    Recep Tayyip Erdogan wurde am 26. Juni 2018 zum zweiten Mal in Folge zum Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Zwei Wochen später hat er seinen Amtseid abgelegt und ist auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen. Bilder seiner Karriere. © dpa | Lefteris Pitarakis
    Der Mann, der die Geschicke der Türkei bereits seit fast 16 Jahren bestimmt, ist nun nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Seine Vereidigung besiegelte den Umbau des Staates vom parlamentarischen in ein Präsidialsystem. Darauf hatte er jahrelang hingearbeitet. Er kann unter anderem per Dekret regieren, viele Posten im Justizsystem besetzen und seine Vizepräsidenten allein bestimmten. Auch sein Kabinett konnte er ohne Zustimmung des Parlaments ernennen.
    Der Mann, der die Geschicke der Türkei bereits seit fast 16 Jahren bestimmt, ist nun nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Seine Vereidigung besiegelte den Umbau des Staates vom parlamentarischen in ein Präsidialsystem. Darauf hatte er jahrelang hingearbeitet. Er kann unter anderem per Dekret regieren, viele Posten im Justizsystem besetzen und seine Vizepräsidenten allein bestimmten. Auch sein Kabinett konnte er ohne Zustimmung des Parlaments ernennen. © dpa | Uncredited
    Erdogan und seine Ehefrau Emine beim Gebet während der pompösen Zeremonie im Präsidentenpalast nach der Vereidigung am 9. Juli 2018.
    Erdogan und seine Ehefrau Emine beim Gebet während der pompösen Zeremonie im Präsidentenpalast nach der Vereidigung am 9. Juli 2018. © REUTERS | UMIT BEKTAS
    Im Oktober 2004 ehrte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, r.) einen besonderen Gast: „Ihr Eintreten für mehr Freiheit, einen besseren Schutz der Menschenrechte und weniger staatliche Bevormundung ist für Sie, Herr Ministerpräsident, aber kein Zugeständnis an Europa, sondern es ist Konsequenz Ihrer politischen Überzeugung.“ Die Laudatio galt dem türkischen Regierungschef, der in Berlin zum „Europäer des Jahres“ in der Kategorie „Brücken des Respekts“ gekürt wurde.
    Im Oktober 2004 ehrte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, r.) einen besonderen Gast: „Ihr Eintreten für mehr Freiheit, einen besseren Schutz der Menschenrechte und weniger staatliche Bevormundung ist für Sie, Herr Ministerpräsident, aber kein Zugeständnis an Europa, sondern es ist Konsequenz Ihrer politischen Überzeugung.“ Die Laudatio galt dem türkischen Regierungschef, der in Berlin zum „Europäer des Jahres“ in der Kategorie „Brücken des Respekts“ gekürt wurde. © picture alliance / Eventpress | dpa Picture-Alliance / Eventpress Herrmann
    Warme Worte, die wohl niemand in der EU mehr mit dem heutigen türkischen Staatspräsidenten verbinden würde. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger scheint Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU, l.) kein Lächeln mehr für Erdogan übrig zu haben. Erdogan griff am 13. März 2017 bei einer Veranstaltung in Ankara erneut Bundeskanzlerin Angela Merkel an, die sich im Streit um Auftrittsverbote hinter die Regierung in Den Haag gestellt hatte.
    Warme Worte, die wohl niemand in der EU mehr mit dem heutigen türkischen Staatspräsidenten verbinden würde. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger scheint Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU, l.) kein Lächeln mehr für Erdogan übrig zu haben. Erdogan griff am 13. März 2017 bei einer Veranstaltung in Ankara erneut Bundeskanzlerin Angela Merkel an, die sich im Streit um Auftrittsverbote hinter die Regierung in Den Haag gestellt hatte. © dpa | Lefteris Pitarakis
    Nicht nur die Schröder-Laudatio zeigt, was für einen Wandel Erdogan in seiner Karriere durchlaufen hat. Seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hat kein Politiker die Türkei stärker geprägt als der heute 64-Jährige – der bislang aus allen Krisen gestärkt hervorging. In die Wiege gelegt wurde Erdogan der Erfolg nicht. Seine Familie stammt von der Schwarzmeerküste. Erdogan wuchs in einfachen Verhältnissen im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa auf.
    Nicht nur die Schröder-Laudatio zeigt, was für einen Wandel Erdogan in seiner Karriere durchlaufen hat. Seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hat kein Politiker die Türkei stärker geprägt als der heute 64-Jährige – der bislang aus allen Krisen gestärkt hervorging. In die Wiege gelegt wurde Erdogan der Erfolg nicht. Seine Familie stammt von der Schwarzmeerküste. Erdogan wuchs in einfachen Verhältnissen im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa auf. © REUTERS | REUTERS / UMIT BEKTAS
    Der Film „Reis“ („Anführer“) zeichnet das frühe Leben Erdogans – verkörpert von dem türkischen Schauspieler Reha Beyoglu – nach. Zwar soll das Präsidialamt keinen Einfluss auf den sentimental-kitschigen Streifen genommen haben. Das Image Erdogans, das der Film transportiert, ist aber eines, das auch seine Anhänger pflegen: das eines ebenso gerechten wie gläubigen Menschen, der sich aufopfert, um Benachteiligten zu helfen.
    Der Film „Reis“ („Anführer“) zeichnet das frühe Leben Erdogans – verkörpert von dem türkischen Schauspieler Reha Beyoglu – nach. Zwar soll das Präsidialamt keinen Einfluss auf den sentimental-kitschigen Streifen genommen haben. Das Image Erdogans, das der Film transportiert, ist aber eines, das auch seine Anhänger pflegen: das eines ebenso gerechten wie gläubigen Menschen, der sich aufopfert, um Benachteiligten zu helfen. © REUTERS | REUTERS / MURAD SEZER
    Erst in Kasimpasa, dann von 1994 an als Oberbürgermeister in ganz Istanbul. Diese Aufnahme zeigt Erdogan (Mitte) am 22. April 1998 gemeinsam mit Melih Gokcek (l.) – Bürgermeister von Ankara – und dem türkischen AKP-Politiker Ismail Kahraman in Istanbul.
    Erst in Kasimpasa, dann von 1994 an als Oberbürgermeister in ganz Istanbul. Diese Aufnahme zeigt Erdogan (Mitte) am 22. April 1998 gemeinsam mit Melih Gokcek (l.) – Bürgermeister von Ankara – und dem türkischen AKP-Politiker Ismail Kahraman in Istanbul. © picture alliance/ASSOCIATED PRESS | AP Content
    Der Film endet 1999 mit Erdogans Verhaftung wegen einer flammenden Rede, in der er ein Gedicht mit dem Vers „Die Minarette sind unsere Bajonette“ zitierte. Nach vier Monaten wurde Erdogan wieder aus der Haft entlassen.
    Der Film endet 1999 mit Erdogans Verhaftung wegen einer flammenden Rede, in der er ein Gedicht mit dem Vers „Die Minarette sind unsere Bajonette“ zitierte. Nach vier Monaten wurde Erdogan wieder aus der Haft entlassen. © REUTERS | REUTERS / Stringer Turkey
    2002 führte der vierfache Familienvater die von ihm mitbegründete islamisch-konservative AKP an die Macht.
    2002 führte der vierfache Familienvater die von ihm mitbegründete islamisch-konservative AKP an die Macht. © REUTERS | REUTERS / Fatih Saribas
    Shaking Hands: Erdogan trifft im Dezember 2002 den damaligen US-Präsidenten George W. Bush im Weißen Haus.
    Shaking Hands: Erdogan trifft im Dezember 2002 den damaligen US-Präsidenten George W. Bush im Weißen Haus. © REUTERS | REUTERS / Kevin Lamarque
    Nur wenige Minuten vermochte sich der Regierungschef im Sattel zu halten, als er bei der Eröffnung eines Stadtparks im Istanbuler Bezirk Bayrampasa am 30. Juli 2003 einen kleinen Ausritt wagte. Das zuvor bereits bockige Pferd warf ihn kurzerhand ab. Erdogan kam ungeschoren davon. Sein Programm habe er nach dem Sturz normal fortgesetzt.
    Nur wenige Minuten vermochte sich der Regierungschef im Sattel zu halten, als er bei der Eröffnung eines Stadtparks im Istanbuler Bezirk Bayrampasa am 30. Juli 2003 einen kleinen Ausritt wagte. Das zuvor bereits bockige Pferd warf ihn kurzerhand ab. Erdogan kam ungeschoren davon. Sein Programm habe er nach dem Sturz normal fortgesetzt. © picture-alliance / dpa/dpaweb | dpa Picture-Alliance / epa
    Im Jahr 2003 übernahm Erdogan das Amt des Ministerpräsidenten. Die Aufnahme zeigt Erdogans Teilnahme an der Zeremonie zum 67. Todestag von Mustafa Kemal Atatürk in Ankara.
    Im Jahr 2003 übernahm Erdogan das Amt des Ministerpräsidenten. Die Aufnahme zeigt Erdogans Teilnahme an der Zeremonie zum 67. Todestag von Mustafa Kemal Atatürk in Ankara. © REUTERS | Umit Bektas
    Rote Nelken gab es im Mai 2014 in Köln während einer Veranstaltung zum zehnjährigen Jubiläum der UETD, der Union Europäisch-Türkischer Demokraten.
    Rote Nelken gab es im Mai 2014 in Köln während einer Veranstaltung zum zehnjährigen Jubiläum der UETD, der Union Europäisch-Türkischer Demokraten. © Getty Images | Sascha Schuermann
    2014 wurde Erdogan der erste direkt vom Volk gewählte Staatspräsident der Republik. Am 28. August 2014 wurde er vereidigt. Die Aufnahme zeigt den vierfachen Familienvater mit seiner Ehefrau Emine (3.v.l.), Schwiegersohn Berat Albayrak (l.), Tochter Esra Erdogan Albayrak (2.v.l.), Sohn Necmeddin Bilal (2.v.r.) und Tochter Sümeyye.
    2014 wurde Erdogan der erste direkt vom Volk gewählte Staatspräsident der Republik. Am 28. August 2014 wurde er vereidigt. Die Aufnahme zeigt den vierfachen Familienvater mit seiner Ehefrau Emine (3.v.l.), Schwiegersohn Berat Albayrak (l.), Tochter Esra Erdogan Albayrak (2.v.l.), Sohn Necmeddin Bilal (2.v.r.) und Tochter Sümeyye. © REUTERS | REUTERS / UMIT BEKTAS
    Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 treibt Erdogan sein Ziel eines Präsidialsystems für die Türkei mit Riesenschritten voran. Diese Aufnahme zeigt Soldaten vor dem Denkmal der Republik am Taksim-Platz in Istanbul. Der Aufstand mit etwa 300 Toten scheitert. Ankara macht Anhänger des Predigers Fethullah Gülen verantwortlich.
    Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 treibt Erdogan sein Ziel eines Präsidialsystems für die Türkei mit Riesenschritten voran. Diese Aufnahme zeigt Soldaten vor dem Denkmal der Republik am Taksim-Platz in Istanbul. Der Aufstand mit etwa 300 Toten scheitert. Ankara macht Anhänger des Predigers Fethullah Gülen verantwortlich. © REUTERS | REUTERS / MURAD SEZER
    Tausende Beamten, Polizisten und Richter werden entlassen und verhaftet. Erdogan spricht von „Säuberungen“.
    Tausende Beamten, Polizisten und Richter werden entlassen und verhaftet. Erdogan spricht von „Säuberungen“. © REUTERS | REUTERS / UMIT BEKTAS
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gab am 16. April in einem Wahllokal in Istanbul seine Stimme zum Referendum ab. Das Volk entschied zugunsten des Staatschefs. Das Präsidialsystem, für dessen Einführung bei dem Verfassungs-Referendum eine knappe Mehrheit votierte, wird Erdogan deutlich mehr Macht verleihen.
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gab am 16. April in einem Wahllokal in Istanbul seine Stimme zum Referendum ab. Das Volk entschied zugunsten des Staatschefs. Das Präsidialsystem, für dessen Einführung bei dem Verfassungs-Referendum eine knappe Mehrheit votierte, wird Erdogan deutlich mehr Macht verleihen. © dpa | Lefteris Pitarakis
    Erdogan hat weitere unbestreitbare Erfolge vorzuweisen. Unter seiner Ägide hat die Türkei eine gigantische wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen. Erdogan war es auch, der die Türkei Richtung Europa führte. Als er Ministerpräsident war, wurde 2004 die Todesstrafe abgeschafft.
    Erdogan hat weitere unbestreitbare Erfolge vorzuweisen. Unter seiner Ägide hat die Türkei eine gigantische wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen. Erdogan war es auch, der die Türkei Richtung Europa führte. Als er Ministerpräsident war, wurde 2004 die Todesstrafe abgeschafft. © REUTERS | REUTERS / OSMAN ORSAL
    2005 nahm die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der EU auf. Während weite Teile des Nahen Ostens im Chaos versanken, schien Erdogan zu beweisen, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch in sich sein müssen. Erdogan war es auch, der einen Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in die Wege leitete.
    2005 nahm die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der EU auf. Während weite Teile des Nahen Ostens im Chaos versanken, schien Erdogan zu beweisen, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch in sich sein müssen. Erdogan war es auch, der einen Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in die Wege leitete. © REUTERS | REUTERS / YAGIZ KARAHAN
    Der Friedensprozess mit der PKK ist gescheitert, seit Mitte 2015 eskaliert die Gewalt. Als die AKP im Juni 2015 erstmals die absolute Mehrheit bei der Parlamentswahl verlor, veranlasste Erdogan eine Neuwahl, um den Makel auszubügeln. Nach der Niederschlagung des Putsches verhängte der Präsident den Ausnahmezustand und ließ Zehntausende Menschen inhaftieren, darunter auch regierungskritische Journalisten. Rund 100.000 Staatsbedienstete wurden entlassen.
    Der Friedensprozess mit der PKK ist gescheitert, seit Mitte 2015 eskaliert die Gewalt. Als die AKP im Juni 2015 erstmals die absolute Mehrheit bei der Parlamentswahl verlor, veranlasste Erdogan eine Neuwahl, um den Makel auszubügeln. Nach der Niederschlagung des Putsches verhängte der Präsident den Ausnahmezustand und ließ Zehntausende Menschen inhaftieren, darunter auch regierungskritische Journalisten. Rund 100.000 Staatsbedienstete wurden entlassen. © dpa | Kayhan Ozer
    Je stärker die EU-Kritik an dem im Westen als zunehmend autoritär empfundenen Führungsstil Erdogans wuchs, desto mehr wendete sich dieser von Europa ab. Erdogan nannte die EU erst kürzlich eine „Kreuzritter-Allianz“.
    Je stärker die EU-Kritik an dem im Westen als zunehmend autoritär empfundenen Führungsstil Erdogans wuchs, desto mehr wendete sich dieser von Europa ab. Erdogan nannte die EU erst kürzlich eine „Kreuzritter-Allianz“. © REUTERS | REUTERS / MURAD SEZER
    Bei seinem Amtsantritt als Präsident 2014 hatte Erdogan eine „neue Türkei“ versprochen und an die Adresse seiner Gegner versöhnliche Signale ausgesandt.
    Bei seinem Amtsantritt als Präsident 2014 hatte Erdogan eine „neue Türkei“ versprochen und an die Adresse seiner Gegner versöhnliche Signale ausgesandt. © REUTERS | Murad Sezer
    „Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen“, sagte er damals. Stattdessen sind die Gräben in der Bevölkerung tiefer denn je.
    „Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen“, sagte er damals. Stattdessen sind die Gräben in der Bevölkerung tiefer denn je. © REUTERS | HANDOUT
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    Hinweise auf politische Verfahren

    Auch eine Anfrage dieser Redaktion an die Bundesländer gibt keinen Aufschluss darüber, wie stark die türkische Justiz versucht, politische Gegner mit Hilfe deutscher Gerichte zu verfolgen. Statistiken liegen in vielen Ministerien nicht vor. Es gibt nur Indizien, so wie die Antwort eines Sprechers aus Rheinland-Pfalz: Dort seien „in letzter Zeit einige Fälle bekannt geworden“, in denen türkische Behörden um Hilfe bei Auslieferungen gebeten hätten. Vor allem im Zusammenhang mit der Gülen-Bewegung. Diese seien allerdings alle abgelehnt worden.

    So bleibt Erdogans Regierung im Kampf gegen Kritiker und mutmaßliche Extremisten vor allem das eigene Netzwerk – die Staatsbediensteten in Deutschland und einzelne Imame. Doch nicht alle ziehen mit. Vor allem in den Monaten nach dem Putschversuch tobt bei dem Moscheebetreiber Ditib nach Informationen dieser Redaktion bundesweit ein Machtkampf. „Die Spitzen der Landesverbände sehen Ditib mehrheitlich als zivilgesellschaftlichen Akteur, der nach Deutschland gehört – die Attachés eher als politisches Instrument zur Wahrung von Interessen“, sagt ein leitender Ditib-Angestellter. Die mutmaßlichen Spitzeleien von Mitarbeitern werden auch intern teilweise äußerst kritisch gesehen. In einer der größten deutschen Städte entwarf ein Attaché im Konsulat etwa detaillierte Handlungsanweisungen für Imame in Ditib-Moscheen, die bestimmte Informationen sammeln sollten – ein hochrangiger Diplomat vor Ort stoppte das Vorhaben schließlich.

    Reformer oder Hardliner – wer setzt sich durch?

    Nach Informationen unserer Redaktion wollen die Reformer innerhalb von Ditib eine neue Struktur erreichen, um den Moscheebetreiber unabhängiger von der Regierung in Ankara zu machen. Die bisherige Ditib-Spitze hat entsprechende Abstimmungen aber wiederholt verschoben.

    In vielen Bundesländern arbeiten die deutschen Behörden eng mit Ditib zusammen, etwa bei Programmen zur Integration oder Deradikalisierung von Extremisten. Daran hat auch die Spionage-Affäre nichts geändert. Zwar setzte die Bundesregierung die Zahlungen an den Dachverband kurzzeitig aus. Doch eine Prüfung des Familienministeriums habe ergeben, dass keine Verbindungen zwischen den geförderten Projekten und den vom Ermittlungsverfahren betroffenen Imamen bestünden, teilt ein Sprecher auf Nachfrage mit. Der Bund fördert Ditib mittlerweile wieder: in 2017 mit insgesamt mehr als einer Million Euro.

    Die Affäre um Ditib zeigt jedoch auch, dass dem deutschen Staat Fehler bei der Suche nach möglichen Spionen unterlaufen sind. Und dass die Sicherheitsbehörden nur begrenzt Einblick in die Aktivitäten einzelner Moscheen haben. Anklage erhob die Staatsanwaltschaft bisher gegen keinen einzigen Imam. Die Belege reichen nicht aus.

    Post des Verfassungsschutzes

    Ende Mai gibt die Bundesregierung auf Anfrage der Opposition im Bundestag an, dass elf Tatverdächtige bereits in Richtung Türkei ausgereist seien – acht von ihnen noch nach Beginn der Ermittlungen. Acht hielten sich noch in Deutschland auf. Haftbefehle der Staatsanwaltschaft lehnte der Ermittlungsrichter aus Mangel an belastbaren Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden schon einmal ab. Eine Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft sagte unserer Redaktion nun: „Der Erfolg unserer Ermittlungen hängt derzeit vor allem davon ab, welche Erkenntnisse und Belege wir von den deutschen Spionageabwehrbehörden bekommen.“ Offenbar wartet man in Karlsruhe auf Post der Sicherheitsdienste.

    Doch ob vom Verfassungsschutz derzeit überhaupt Behördenzeugnisse mit Indizien oder Beweisen an die Staatsanwälte gehen, ist unklar. Beim Geheimdienst gibt man sich auf Nachfrage wortkarg. Der Dienst will sich einerseits nicht in die Karten schauen lassen. Andererseits liefert der Verfassungsschutz in vielen Fällen der Spionagevorwürfe häufig nur Indizien, sagen selbst Sicherheitsleute. Gerichtsfeste Beweise sind schwer zu generieren. Wie viele Informationen ein Geheimdienst gewinnen kann, hängt auch davon ab, ob ein Verein oder eine Gruppe „Beobachtungsobjekt“ ist. Ditib war es nie. Alles, was zudem in Botschaften passiert, bleibt für den Verfassungsschutz in der Regel nicht zugänglich.

    Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim.
    Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim. © REUTERS | KHAM

    Und der Staatsanwaltschaft unterliefen selbst Fehler. Rückblick: Februar 2017. Weil sich der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim in Oberhausen angekündigt hat, bereitet sich die Stadt auf einen Ansturm von Erdogan-Anhängern vor. Yildirim wirbt für die Verfassungsreform zum Präsidialsystem, das Erdogan mehr Macht verleihen soll. Unmittelbar vor dem Auftritt erreicht den Grünen-Bundestagsabgeordneten Volker Beck ein vertraulicher Hinweis aus der muslimischen Community: Halife Keskin, der Chef der Religionsbehörde und mutmaßliche Schlüsselfigur in der Spionageaffäre, der auch das Schreiben an die Attachés aufgesetzt hatte, sei im Kölner Raum und im Ruhrgebiet unterwegs.

    Volker Beck hakt nach

    Am 18. Februar informiert Beck den Generalbundesanwalt und das Bundeskriminalamt. „Halife Keskin ist seit einigen Tagen in Deutschland und trommelte die Attachés zusammen. U.a. um die Ditib-Basis für die Oberhausen-Veranstaltung zu mobilisieren“, teilt der Grüne den Sicherheitsbehörden mit und fordert diese zum Eingreifen auf: „Wenn jemand für eine Aussage eingeladen werden sollte, dann derjenige, der diese Anordnung, die alles ausgelöst hat, unterzeichnet hat.“

    Da läuft bereits ein Strafverfahren wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit im Zusammenhang mit Ditib. Beck hakt nach, will von der Bundesregierung wissen, warum nicht Yildirim, mindestens aber Keskin, vernommen worden sei. Yildirim genieße Immunität, antwortet ihm das Justizministerium. Zu Keskin geben das Bundeskanzleramt, das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium im Nachhinein an, sie hätten „keine Erkenntnisse“ über dessen Aufenthalt in Deutschland.

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    Der Grünen-Politiker hatte die Behörden per Email und per Fax über Keskins Tour durch NRW informiert. Doch keine seiner Nachrichten soll bei den Behörden angekommen sein. Laut Justiz-Staatssekretär Lange ist die Mail beim GBA gelöscht worden – versehentlich. Das Fax sei nie in Karlsruhe aufgefunden worden. Auch die Mail an das BKA sei unauffindbar.

    Keskin ist längst weg

    Das Loch im Posteingang der Sicherheitsbehörden schlägt Wellen. Die Bundesregierung fordert Generalbundesanwalt Peter Frank auf, „diesen Vorkommnissen sofort nachzugehen und umgehend für organisatorische Konsequenzen zu sorgen“. Danach ist von „Sofortmaßnahmen“ die Rede – und davon, „dass sich ein solcher Vorgang nicht wiederholen kann“. Über die Frage, „ob der Herr Generalbundesanwalt Ermittlungen anstellen lässt“ gegen Keskin, darüber „wurde nicht gesprochen“, heißt es aus dem Justizministerium. Das passiert erst kurz darauf, im März. Laut Medienberichten beginnt die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen ihn wegen des Verdachts auf geheimdienstliche Agententätigkeit. Sofern Keskin je in Deutschland war, ist er nun längst wieder in der Türkei.