Berlin. Die Bundesregierung gibt viele Millionen aus, um die Radikalisierung von Muslimen zu stoppen. Dennoch wächst die gewaltbereite Szene.

An der Grenze zur Türkei endet die Reise der jungen Männer. Bulgarische Polizisten holen sie aus dem Zug, nehmen sie fest. Der Sicherheitsdienst des osteuropäischen Landes hatte offenbar einen Tipp bekommen, dass die Männer aus Hamburg unterwegs sind: über Istanbul in Richtung Syrien oder Irak. In den Dschihad.

Die Männer sitzen seit Mitte April in der Hansestadt in Haft, sie sind zwischen 16 und 25 Jahre alt, alle in Deutschland geboren. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat und Teilnahme am Dschihad, möglicherweise beim selbst ernannten „Islamischen Staat“. Details geben die Behörden nicht bekannt, die Ermittlungen laufen noch.

Wie wirksam ist die Präventionspolitik?

Die Arbeit der Sicherheitsbehörden hatte Erfolg, wenn auch im letzten Moment. Und doch passierte mit der Ausreise in den Dschihad etwas, das Verfassungsschützer, Polizistinnen, aber auch Lehrer, Imame, Sozialarbeiter und Psychologinnen verhindern wollen: Radikalisierung, Gewalt, im schlimmsten Fall Terrorismus.

Millionen investieren Regierungen im Bund und in den Ländern in Projekte zur Prävention. Sie wollen Demokratie fördern, Menschen aus der sogenannten Salafisten-Szene helfen, gefangenen Straftätern aus der Radikalisierung helfen. Es treffen sich Arbeitsgemeinschaften und Bund-Länder-Gremien, schmieden lokale Aktionspläne, in einigen Ländern auch mit den muslimischen Verbänden. Auch mehrere neue Gesetze wurden verabschiedet: Die Ausreise in den Dschihad stellte die Koalition von Union und SPD unter Strafe, Reisepässe können die Ausländerbehörden im Notfall sogar entziehen. Man kann dem Staat nicht vorwerfen, er würde nichts gegen Islamisten tun. Nur wie wirksam ist die Präventionspolitik?

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    Das Dunkelfeld im Salafismus wird heller

    Die Frage stellt sich: Denn die Szene wächst – trotz Millionen-Investitionen, trotz Gesetzesverschärfungen und Verboten von radikalen Vereinen oder Moscheen. Im März brach die Anzahl der Mitglieder in der sogenannten Salafisten-Szene laut Verfassungsschutz erstmal die Grenze von 10.000. Anfang des Jahres waren es noch 9700. Auch die Zahl der Ausreisenden Richtung Syrien und Irak steigt weiter an. Mitte Mai zählte das Bundeskriminalamt 920 Ausgereiste, ein Jahr zuvor waren es noch 810. Und auch die Frequenz der Attentate in Europa steigt.

    Zur Wahrheit dieser Statistiken gehört auch: Das Tempo, in dem die Szene in Deutschland wächst, geht zurück. Das Gleiche gilt für die Dschihad-Reisenden. Und je mehr der Staat in Aufklärung eines extremistischen Milieus investiert, desto heller wird der Einblick in ein Dunkelfeld, das bis vor Jahren nur wenige Insider als bedrohlich wahrnahmen. Noch immer fehlen unter den Landesämtern abgestimmte Standards, ab wann eine Person überhaupt als Islamist gilt.

    Wer mit Fachleuten spricht, hört scharfe Kritik an der Politik. „Wir können auch nicht nachholen, was jahrelang von der Politik versäumt wurde“, sagt Thomas Mücke vom „Violence Prevention Network“ (VPN) in Berlin. Kurt Edler, der mehrere Jahre in Hamburgs Schulen zu dem Thema fortgebildet hat, sagt: „Islamismusprävention im Schul- und Jugendbereich ist in Deutschland bis heute ein Chaos. Es ist kurios, wer da alles dran rumdoktert.“

    Islamisten und Linksextreme wurden in einen Topf geworfen

    2010 hatte das Familienministerium erstmals ein Programm aufgelegt: Das Budget war deutlich kleiner als der finanzierte Kampf gegen Rechtsextreme. Und: Islamisten und Linksextreme, völlig unterschiedliche Milieus, wurden in einen Topf geworfen. Auch ein Programm des Innenministeriums konzen­trierte sich damals auf Neonazis in Ostdeutschland. Der Krieg in Syrien hatte noch nicht begonnen, den IS gab es nicht, der 11. September 2001 war lange her. Das politische Berlin hatte andere Sorgen, Stuttgart 21 zum Beispiel.

    Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD).
    Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD). © dpa | Kay Nietfeld

    Sieben Jahre und etliche Terroranschläge weltweit später sitzt Familienministerin Katarina Barley vor Journalisten und verkündet: mehr Geld gegen Islamismus. Die Bundesregierung hatte bereits die Mittel für die Extremismusprävention auf 115 Millionen Euro verdreifacht. Ab 2018 noch einmal 100 Millionen Euro speziell für den Kampf gegen religiös begründete Radikalität. Ist die Regierung auf dem richtigen Kurs?

    „Jeder Euro, der für Prävention ausgegeben wird, trägt auch zur Verbesserung der Sicherheitslage bei“, sagt Barley. Präventionsarbeit müsse dort ansetzen, wo die Gefährdung besonders hoch sei: auf den Schulhöfen und im Netz, aber auch in den Gefängnissen.

    Bundesweit laufen derzeit 28 Modellprojekte

    Bundesweit laufen derzeit 28 Modellprojekte. Mit deren Hilfe will die Bundesregierung Strategien entwickeln und verbessern. Denn vor allem auf eines weisen Experten wie Mücke und Edler hin: Deutschland sammelte viele Jahre Erfahrung im Kampf gegen rechts oder Drogensucht. Doch genau daran fehlte es im Umgang mit radikalisierten jungen Muslimen. In Schulen und Vereinen ignorierten Lehrerinnen oder Trainer das Problem, Jugendhäusern und Moscheen fehlte Geld. Und in islamischen Gemeinden herrschte „vielfach auch Misstrauen“, wenn der Staat mit Sozialarbeitern vor der Tür stand. Das hält eine Auswertung der bisherigen Projekte fest, die das Familienministerium diese Woche vorgestellt hat.

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      Viele der Millionen fließen nun erst einmal in den Aufbau einer Grundversorgung, die für Drogensüchtige oder Neonazis flächendeckend steht. Doch mit jedem Anschlag steigt der Druck, schnelle Erfolge bei der Islamismusprävention zu sehen. „Es geht nicht darum, das hundertste Projekt über drei Jahre zu finanzieren, sondern darum, die Erfahrungen dieser Projekte in die Regelangebote und in die Ausbildung zu kriegen“, sagt Götz Nordbruch, Co-Geschäftsführer des Vereins Ufuq.de. In Schulen, Vereine, Moscheen. „Das ist teuer, aber nur so lässt sich etwas erreichen.“ So könne ein Fußballtrainer sehr früh erkennen, wenn ein Jugendlicher aus dem Team abrutscht in die Radikalität. Nur fehlt ihm oft das Lehrzeug und die Didaktik, um sich religiösem Extremismus entgegenzustellen.

      1,6 Milliarden Euro stellt allein der Bund bis 2020 für Sicherheit bereit. Vergleicht man das Budget für neue Stellen bei Verfassungsschutz und Polizei, ist der Etat für Prävention klein. Die Grünen üben daran Kritik: „Prävention und Deradikalisierung bleiben im Wesentlichen Leerstellen in der Sicherheitspolitik der Bundesregierung“, sagt Innenexpertin Irene Mihalic. Ihre Partei fordert ein Bundespräventionszentrum. Ein solches Zentrum, so die Grünen, könne auch ein weiteres Problem der Arbeit mit gewalttätigen Jugendlichen abmildern: Niemand kann so richtig messen, was welche Prävention am meisten Erfolg hat. Die Arbeit mit radikalisierten Menschen dauert oft Jahre, es gibt Rückschläge. Eltern, Lehrer, Freunde – all das spielt eine wichtige Rolle. Sozialarbeit lässt sich nicht planen wie Straßenbau.

      Sozialarbeitern fehlen Richtlinien für ihr Handeln

      Der Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe Thomas Mücke, Gründer des Vereins „Violence Prevention Network“.
      Der Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe Thomas Mücke, Gründer des Vereins „Violence Prevention Network“. © imago/Horst Galuschka | imago stock&people

      Und doch sehen Sozialwissenschaftler wie Nordbruch Fortschritte. Anders als etwa in Frankreich sei es in Deutschland der richtige Weg, Prävention möglichst weit zu streuen, etwa auch auf Stadttheater oder Fußballvereine. Früher hätten Leiter von Einrichtungen, Schulen oder Vereinen etwa wegen der Sorge vor Imageschäden abwehrend gegen Intervention von außen reagiert. Heute wüssten sie, dass Prävention nicht gleich einen Polizeieinsatz bedeute. Aus diesem Grund warnt Nordbruch, einerseits Millionen für neue Präventionsprojekte auszugeben, andererseits aber die Sozialhaushalte zu kürzen und Jugendklubs zu schließen. Auch der Pädagoge Kurt Edler hebt hervor, dass es in Deutschland „tolle Schulprofis mit Kontakt zu gefährdeten Jugendlichen“ gebe. „Aber sie dürfen aus ihrem Unterrichtsgefängnis nicht raus.“

      Es geht um Ressourcen – es geht aber auch um Rechte. So sei in Dienstvorschriften oder Schulgesetzen noch immer nicht geregelt, welche Meldestandards oder Routinen gelten sollen, wenn ein junger Schüler mit extremen Gedanken im Unterricht auffällt. Diese Rechtsunsicherheit beklagt auch Thomas Mücke vom Präventionsnetzwerk VPN. Es sei nicht klar, welche Informationen ein Sozialarbeiter etwa über einen jungen Islamisten an die Polizei weitergeben muss und wo er schweigen darf, um das Vertrauen zu dem jungen Menschen nicht zu verletzen. Hier, sagt Mücke, helfe nicht mehr Geld. Sondern eine Gesetzesinitiative der Politik. Geplant ist nach Angaben der Bundesregierung dazu derzeit nichts. „Die Politik lässt uns mit diesen gravierenden Entscheidungen im Alltag allein“, sagt Mücke.