Berlin. Vor neun Jahren ging bei der WM in Berlin sein Stern am Himmel auf. Diesmal hat er eigentlich keine Chance, doch die will er nutzen.

Ein gestandenes Mannsbild. Wer sich so jemanden vorstellen will, kommt leicht auf Robert Harting. 2,01 Meter großer Athlet, 120 Kilogramm schwer, Rauschebart, ein etwas roh wirkender Mensch, der Ur-Kraft ausstrahlt. Dazu ein rastloser Erfolgstyp, ein Diskuswerfer, der dreimal Deutschlands „Sportler des Jahres“ wurde. Das wird man nicht nur, weil man eine Scheibe an die 70 Meter weit oder zweimal in seinem Leben sogar darüber hinaus wirft.

Und dieser Berg von einem Mann kauft sich im Trainingslager ein bisschen Gips, um daraus mit seinen großen Händen eine kleine Medaille zu formen.

Warum? Das Kind im Mann? Oder glaubt er mit fast 34 tatsächlich, am Mittwoch bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in Berlin auf dem Podium zu landen? Ein Scheitern in der Qualifikation an diesem Dienstag jedenfalls „existiert in meinem Kopf nicht“, sagt er. „Ich habe mich zwar eigentlich gelöst davon, noch der Robert Harting zu sein“, fährt er fort und dehnt das „der“ dabei, „trotzdem ist die Hoffnung da, dass mir was gelingt.“ Er hat sich die echten Plaketten angeschaut und dann in Pausen vor sich hingebastelt. „Positiven Motivationsprozess“ nennt Harting das.

Dritter Platz bei der Deutschen Meisterschaft

Einige Zeit musste er Gedanken weit weg schieben. Im Frühjahr kam die niederschmetternde Diagnose von der angerissenen Quadrizepssehne im rechten Knie. Extreme Einschränkung der Bewegungsfähigkeit in einer Disziplin, die sich aus ein paar tausend kleinsten Einzelteilen zusammensetzt. Aus und vorbei, für normale Menschen. Auch Harting war verzweifelt. Nur normal ist er nicht. Wäre er es, wäre er nicht dort, wo er ist. Er weigerte sich aufzugeben. Bei den deutschen Meisterschaften in Nürnberg vor gut zwei Wochen wurde er Dritter hinter seinem Bruder Christoph und Daniel Jasinski. Vier Tage darauf nominierte der deutsche Verband diese Drei für Berlin. Der große Wettkämpfer hat es noch mal geschafft. Und er wird in Berlin gefeiert. Jeden Abend wird eine Lichtprojektion Hartings an ein 120 Meter hohes Hotel in der City geworfen. Sogar in der neuesten Ausgabe des Mickey-Mouse-Magazins kommt er vor – mit Entenschnabel. Lustig.

Es gibt sie also, die Rückkehr an den magischen Ort seines ersten Triumphes. Weltmeisterschaft 2009, letzter Versuch. Robert Harting ist wütend, weil er nicht vorn liegt im Olympiastadion seiner Heimatstadt. 30.000 Zuschauer brüllen, darunter seine heutige Ehefrau Julia, damals noch Teenager und Fan. „Ich habe mir kein Video öfter angeguckt als das vom sechsten Versuch“, sagt er, „wie ich den angesprungen habe, wie ich dagestanden habe, das war alles so halboptimal von der Optik her.“ Aber der Diskus flog und flog, 69,43 Meter weit. „Das Gerät hatte die Geschwindigkeit, es hatte Druck, es hatte Risiko.“ Kurze Pause. „Es hatte alles, was ich damals hatte.“ Harting war entfesselt, im Rausch der Ur-Kraft und der Emotionen.

Sein Ehrgeiz ist unkaputtbar

Damals ist weit weg, körperlich wie emotional. „Robert ist nicht mehr der Alte“, sagt sein Trainer Marko Badura, „aber er liebt es immer noch zu werfen, trotz aller Rückschläge.“ Der Körper lässt sich nicht mehr in die gute alte Form bringen. Stattdessen hofft Harting, „von dieser Energie wieder etwas mitnehmen zu können“. Wozu? Er ist doch Olympiasieger geworden, dreimal Weltmeister, zweimal Europameister, zehn Mal deutscher Meister. Und bekommt beim Istaf am 2. September seinen großen Abschied zum Karriereende. Warum die Quälerei? So denkt Robert Harting nicht. Weil sein Ehrgeiz unkaputtbar ist. Und weil der Kreis seines Sportlerlebens sich so schön schließen wird.

„Stell dir vor“, sagt er, „du sitzt mit 80 Jahren auf der Couch und denkst nach, was du verpasst hast. Du denkst vielleicht, warum hast du mit 18 dieser Frau nicht deine Liebe gestanden?“ Und er? Würde er etwa denken: Warum habe ich mich damals nicht für diese EM qualifiziert? „Genau!“ Harting lacht. Ist er jetzt komplett irre oder einfach ehrlich? „Es ist eine schöne Sache, etwas mit Stil zu beenden“, erklärt er, „es ist mir wichtig, das im Nationaltrikot zu tun.“ Und er ist wild darauf, es in diesem Stadion zu tun. Obwohl die WM neun Jahre her ist – „ich weiß noch, wie sich der Ring unter den Füßen angefühlt hat“.

Die 63,92 Meter von Nürnberg sollen nicht sein letztes sportliches Wort gewesen sein. „Ich habe noch Potenzial, wenn alles passt, müssten 66,50 Meter drin sein.“ Und wer weiß, was die anderen in seinem Olympiastadion zu Werke bringen? „Andere müssen einen schlechten, ich einen guten Tag haben, damit das Leistungsgefälle sich zu meinen Gunsten verändert“, weiß der alte Wettkämpfer. Er weiß auch, die ersten Plätze sind eigentlich unrealistisch. „Ehrlich gesagt, will ich einen harten, fairen Wettkampf ohne Geschenke, das habe ich verdient.“

Robert Harting hat sich übrigens auch eine Farbe für seine Gipsmedaille gekauft. Kupfer. Sieht aus wie Bronze.