Berlin. Olympiasieger Christoph Harting über seine Ziele bei der EM in Berlin, die Abneigung gegenüber sozialen Netzwerken und den Tanz in Rio.

Fünf Minuten vor dem verabredeten Interview-Termin ist Christoph Harting (28) schon da. Lässig wartet der 2,07 Meter große Mann auf seinem Motorrad, einer schwarzen Buell, vor dem „Olympia“. Er hat das Restaurant selbst ausgewählt. Das erste Klischee, dass der Diskus-Olympiasieger es mit der Pünktlichkeit nicht so genau nehme, ist also widerlegt. Im Gespräch stellt sich bald heraus, dass er auch keineswegs albern ist, wie es manchen nach seinem Olympiasieg 2016 erschien. Er passt nur in keine Schublade. Harting redet offen über seine Tanzeinlage in Rio, große Ziele, aber auch über seine begrenzte Leidenschaft für den Sport. Nur bei Fragen nach dem Verhältnis zu seinem Bruder Robert bleibt er verschlossen.

Was haben Sie sich für die EM in Berlin vorgenommen, Herr Harting?

Christoph Harting: Ich will gewinnen. Nach den Weltmeisterschaften 2009 in Berlin ist sie emotional betrachtet das Großereignis der Leichtathletik in meiner Heimatstadt. Von daher hat sie einen unglaublich hohen Stellenwert. Rational betrachtet bedeutet mir eine EM gar nichts. Für mich zählen nur Olympische Spiele. Wir haben in diesem Jahr angefangen, uns langfristig auf Tokio 2020 vorzubereiten. Trotzdem, unter dem emotionalen Aspekt wäre es super, zu Hause zu gewinnen. Und ich bin echt guter Dinge.

Ihr Trainer Torsten Lönnfors sagt, Sie machen den Sport, weil Sie ihn können. Aber Sie nehmen ihn nicht ernst. Ist das wahr?

Harting: Zu einem gewissen Teil. Ich nehme den Sport genau ernst genug, um ihn professionell und zielstrebig treiben zu können. Aber nicht so ernst, dass ich mein Leben oder mein Selbstwertgefühl daran klammern würde. Warum bin ich Diskuswerfer? Ich kann es relativ gut. Laut Nietzsche bin ich zwar Sklave, weil ich weniger als acht Stunden für mich selbst habe. Aber ich habe dadurch ein sehr freies und selbstbestimmtes Leben. Aber ist der Sport für mich Berufung? Nein. Ist er Leidenschaft? Weiß Gott – nein! Diskuswerfen ist tatsächlich mein Beruf. Er liegt mir sehr, er macht Spaß, aber ich könnte genauso gut ohne Sport leben.

Das klingt fremd von einem Olympiasieger...

Harting:...ich ordne einfach nicht alles dem Sport unter. Das Privatleben geht immer vor. Die Familie ist das Wichtigste.

Familie ist für Sie wer?

Harting: Meine Eltern, meine Frau und meine Tochter.

Warum ich nachfrage, ist klar: Das Verhältnis zu Ihrem Bruder Robert gilt als sehr angespannt. Ist es immer noch so, dass Sie sich dazu nicht äußern wollen?

Harting: Genauso ist es. Unseren Eltern zuliebe.

Ihr Verhältnis zu Torsten Lönnfors scheint dagegen sehr intensiv zu sein.

Harting: Faktisch runtergebrochen, sehe ich meinen Trainer mehr als meine Ehefrau und meine Tochter, mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt. Umgedreht ist es genauso, er sieht mich mehr als seine Frau und seinen Sohn. Das ist wie eine Berufsehe. Man weiß, wie der andere tickt und wächst zusammen. Das funktioniert zwischen uns ganz gut, weil er ein sehr analytischer, logischer und rationaler Mensch ist, ähnlich wie ich. Und er ist ehrlich. Er sagt mir direkt, was du jetzt gemacht hast, war schlecht.

Was hat er nach der Siegerehrung bei den Olympischen Spielen in Rio gesagt?

Harting: Er hat gesagt: Das war scheiße. Es gibt solche Momente. Wir gehen sehr offen miteinander um. Für Außenstehende wirkt das vielleicht respektlos. Aber so ist es nicht.

Nach Rio hat eine Zeitung geschrieben: Christoph Harting tanzt aus der Reihe. Wie sehen Sie im Nachhinein die Siegerehrung? Werden Sie noch damit konfrontiert?

Harting: Tatsächlich sprechen mich fast nur Journalisten darauf an. Die meisten verstehen die Aufregung darüber heute nicht mehr. Ich habe sogar Anrufe von Leuten bekommen, die sich für ihre Darstellung entschuldigt haben. Die Kontroverse darüber war völlig überzogen. Man wusste einfach nicht damit umzugehen.

Es war schon eine ungewöhnliche Siegerehrung. Sie haben getanzt und geschunkelt. Das sieht man nicht alle Tage.

Harting: Ja, ich passte nicht ins Bild, habe nicht geweint oder wenigstens die Hand auf dem Herzen gehabt. Ich stand nicht still. Wie ich das heute sehe? Ich beschäftige mich nicht mehr damit. Michael Schumacher hat einmal nach einem seiner vielen Triumphe die italienische Nationalhymne beim Abspielen dirigiert. Das soll auch ein Riesenskandal gewesen sein. Von demselben Michael Schumacher, der unzählige Male Weltmeister geworden ist und den alle bewundert haben. Über die Jahre relativiert sich das.

Sie haben sich am selben Abend entschuldigt.

Harting: Mir wurde es von höchster Ebene im DOSB nahegelegt. Bevor man groß darüber nachdenken konnte, stand man schon vor einer Kamera und hat irgendetwas von sich gegeben, was vielleicht auch nicht die richtige Wortwahl war. Was ich gern zugebe: Die Pressekonferenz nach dem Olympiasieg war von mir keine Sternstunde der Sympathie.

Stimmt es, dass es Ihnen sowieso egal ist, was andere Menschen über Sie denken? Oder ist das nur ein Schutzpanzer?

Harting: Absolut egal. Das ist kein Schutzpanzer, sondern innere Überzeugung. Der Schauspieler Jim Carrey hat einmal gesagt: Man hört auf, sich selbst und sein Verhalten zu erklären, wenn man begreift, dass die Menschen nur von ihrem eigenen Punkt der Wahrnehmung verstehen. Du hast ein Bild von dir selbst, wie du dastehst, wie du handelst, wie du der Meinung bist zu sein. Dieses Bild existiert aber nur in dir selbst. Jeder Mensch auf der Welt nimmt dich anders wahr. In einem kürzeren Zeitraum, nach einer Diskussion oder in anderen Lebensumständen. Deshalb existieren auf der Welt Hunderte, vielleicht Tausende Bilder von mir, die alle verschieden sind. Es ist egal, darüber nachzudenken, ob es diesen Menschen gefällt oder nicht. Am Ende des Lebens muss ich mich selbst fragen: Bin ich zufrieden mit dem, wie ich gelebt habe? Bereue ich etwas? Warum soll ich mich so verhalten, dass es anderen Leuten gefällt, obwohl es doch mein Leben ist.

Und was sagen wir am Ende?

Harting: War geil! (lacht) Natürlich, eine der schönsten Floskeln, die es gibt, lautet: Hinterher ist man immer schlauer. Welcher Mensch würde verneinen, jetzt, mit seinem Wissen, dass er vergangene Dinge anders gemacht hätte. Ich bin selbstsicher, aber auch kritikfähig und sehr einsichtig. Wenn ich sehe, ich habe etwas falsch gemacht, entschuldige ich mich.

Es begann mit Ihrem Olympiasieg, dass sich eine jüngere Generation an Ihrem Bruder Robert, dem Polen Malachowski, dem Esten Kanter, vorbeigeschoben hat. Wird sich das in Berlin fortsetzen?

Harting: Ich sage immer, das ist die schlimmste Generation. Gudzius, Stahl, Urbanek, Milanov, Weißhaidinger, Dacres: Diese Leute haben schon sehr jung gelernt, was es heißt, nicht zu erreichen, was in ihnen steckt. Die waren alle in Rio, konnten auch schon weit werfen, haben es nur nervlich nicht hinbekommen. In der Saison darauf sind sie alle viel stärker zurückgekommen. Gudzius wurde Weltmeister vor Stahl. Das Schlimme an denen ist, dass ich die Jungs noch eine ganze Weile an der Backe habe. Neulich sind wir in Paris zusammen im Bus zum Wettkampf gefahren. Haben uns unterhalten, was die Jungs so wiegen. Mason Finley, der Ami, hat zu seinen Topzeiten 200 Kilo gewogen, jetzt so 165. Daniel Stahl hat 148, der Pole Urbanek wiegt über 130. Dann stehe ich da, mit meinen 120 Kilo auf 2,07 Metern und sehe zwischen denen aus wie das Streichholz in der Bockwurstpackung. Aber wir lernen, dass Masse mal Beschleunigung eben doch Energie ist. Von denen bin ich übrigens der Älteste.

Stichwort der letzte Versuch. Was fällt Ihnen dazu ein?

Harting: Alles oder nichts.

In Rio kam alles raus, vor dem Versuch waren Sie Vierter. Wie geht das?

Harting: Es ist ein bisschen das Prinzip Versuch und Irrtum. Du gehst in einen Wettkampf, wirfst dich ein. Der erste Einwerfer ist für mich immer eine Statusabfrage: Was ist da, was funktioniert? Beine, Füße, Oberkörper, Hüfte, arbeitet die Verwringung, habe ich Gefühl, Länge, Geschwindigkeit? Es gibt ganz viele Faktoren, und du schaust auf deine innere Liste. Ploppt da irgendein Fehler auf? Wie kriegst du den raus? In den nächsten Würfen musst du sehen, dass du dein Programm möglichst fehlerfrei zum Laufen bekommst. Du arbeitest die Stellen heraus, die nicht laufen und lässt die Stellen in Ruhe, die funktionieren. Meistens läuft das so, dass du im Wettkampf einmal alles mehr oder weniger abgearbeitet hast und weißt dann, wo musst du nachsteuern, was läuft von allein. Technische Hinweise von meinem Trainer hole ich mir nur in den ersten fünf Versuchen. Im letzten verlasse ich mich nur noch auf mein Gefühl. In Rio war es auch so. Dann klappt es, oder es klappt nicht. Wenn es nicht klappt, geht der Wurf meistens ins Netz, wäre aber vermutlich verdammt weit gewesen (lacht). So ist das Prinzip.

Plötzlich Olympiasieger: Was hat diese Goldmedaille verändert? Hat sie auch Sie verändert?

Harting: Ich erzähle mal eine Episode. Wir sind in diesem Frühjahr zu einem Wettkampf in Portugal gereist, der DLV schrieb, dass ein starkes Team mit einem Olympiasieger dort antreten werde. Als ich das las, dachte ich im ersten Moment, krass, wer fährt denn dort mit? Dann lese ich: ach ja, Christoph Harting. Ich will damit sagen, dass Rio für mich schon sehr weit weg ist. Für mich zählt jetzt Tokio, volle Kraft voraus. In unserer Gesellschaft gerät das Vergangene sehr schnell in Vergessenheit, davon nehme ich mich nicht aus. Mir ist wichtig, was vor mir liegt.

Und, hat der Olympiasieg Sie nun verändert?

Harting: Mein Alltag hat sich verändert. Ich muss mir um die Finanzierung von Trainingslagern keine Sorgen mehr machen. Ich konnte mir ganz viele Wurfgeräte kaufen, die ich mir früher leihen musste. Früher musste ich viel fragen, heute kann ich sagen, wie ich etwas haben möchte, und der DLV kommt mir entgegen. Dafür bin ich sehr dankbar. Auch mit meinem Sponsor der Deutschen Kreditbank AG läuft die Zusammenarbeit sehr gut, ich sage, so und so hätte ich es gern, und meistens funktioniert das. Vieles läuft auf einen gemeinsamen Nenner hinaus. Es hilft, Olympiasieger zu sein.

Sie haben auch Werbung für Menschen in Übergröße gemacht.

Harting: Ja, lustig, für Hirmer. Da muss man die Vorgeschichte kennen. Mit 2,07 Metern findet man ja nicht so leicht was, ich bin ein paar Mal in einer Filiale gewesen, und es passte. Die haben dann nach Rio ein Casting ausgeschrieben, zu dem mich meine Frau ohne mein Wissen angemeldet hat. Ich wusste von nichts. Die fanden das natürlich gut. Irgendwann kam die Einladung und ich fand’s lustig: ich als Model. Dann haben wir uns da in München getroffen. Es ging ja um Übergrößen nicht nur im Vertikalen, sondern auch im Horizontalen. Wir waren eine fröhliche Truppe. Als Dank gab es für jeden einen Einkaufsgutschein und ein Anzugteil, das beim Casting verwendet wurde.

Das war alles? Klingt nicht nach einem Olympiasieger-Honorar.

Harting: Alle das gleiche. Warum soll ich bessergestellt sein? So etwas möchte ich nicht. Alle haben sich gleich viel Mühe gegeben. Und ich finde die Marke gut.

Olympiasieger stehen mehr im Fokus der Öffentlichkeit. Wie ist das bei Ihnen? Was ist erlaubt, was nicht? Und warum sind Sie so faul in den sozialen Netzwerken?

Harting: Anonymität ist für mich ein Segen. Ich lasse den Leuten, die sich selbst darstellen wollen, die Rampenlicht mögen, gern die Bühne: Tobt euch aus! Ich brauche das nicht. Ich stehe lieber abends am Grill und genieße meine Ruhe. Das ist mein innerer Frieden. Die sozialen Medien habe ich seit 2013 nicht bedient. Ich frage mich immer: Warum machen die Leute sich gläsern? Es muss nicht jeder alles von mir wissen. Wenn ich alles von mir preisgebe, dann muss ich mich nicht wundern, dass ich überall angreifbar bin. Früher hat meine Meinung dazu niemanden interessiert, bei einem Olympiasieger ist das plötzlich anders. Daneben gibt es aber auch eine gewisse öffentliche Verantwortung, was ich anfangs ja nicht wahrhaben wollte. Und was mir ziemlich auf die Füße gefallen ist. Damit habe ich gelernt umzugehen. Ich erkenne, dass es da ein öffentliches Interesse gibt, das bedient werden muss. Darum sitze ich heute hier.

Sie haben keinen Berater, der Ihnen sagt, was Sie sagen sollten und was nicht. Warum nicht?

Harting: Beratung hole ich mir von Menschen, von denen ich weiß, dass sie es besser wissen als ich.

Ihr großes sportliches Ziel ist der zweite Olympiasieg 2020 in Tokio...

Harting:...eigentlich die 80 Meter. Das schaffe ich auch schon mit der Ein-Kilo-Scheibe, dem Frauen-Diskus, der landete kürzlich im Training bei 87,86 Metern. Vielleicht schaffe ich es auch mal mit der Eineinhalber, dem Jugend-Diskus. Aber mit dem Männer-Diskus ist es echt verdammt schwer. Ich hätte es nicht gedacht. Aber ich versuche es. Das nächste Etappenziel dahin ist Tokio. Gold. Nach Tokio Paris 2024. Gold. Nach Paris Los Angeles 2028. Gold.

Hallo, Herr Harting, dann sind Sie 38 Jahre alt.

Harting: Ja, ich weiß ja. 38 Jahre ist für den Sport ziemlich alt. Aber LA wäre schon toll.