London. Nach dem Hochhausbrand fürchten die Helfer, dass die Opferzahl dreistellig werden könnte. Viele Brandschutzmängel waren lange bekannt.

Noch am Donnerstag loderten Flammen im Grenfell Tower. Der schlimmste Hochhausbrand in der britischen Geschichte, der in den frühen Morgenstunden am Mittwoch begann, hat bisher mindestens 17 Menschenleben gefordert. Aber die Opferzahl, fürchten Feuerwehr und Polizei, wird steigen und könnte womöglich im dreistelligen Bereich liegen.

Der 24 Stockwerke hohe Wohnturm wurde zur Feuerfalle. Besonders die Mieter in den höchsten Stockwerken hatten keine Chance. Von denen, denen die Flucht gelang, blieben am Donnerstag 37 Menschen in ärztlicher Behandlung, davon 17 in einem kritischen Zustand.

Grenfell Tower nicht einsturzgefährdet

Jetzt geht es für die Feuerwehr nicht mehr um eine Rettungs-, sondern nur noch um eine Bergungsaktion. Die rußgeschwärzte Hochhausruine ist statisch noch intakt, eine Einsturzgefahr besteht nicht. Aber einzelne Wohnungen sind kollabiert. Die Rettungskräfte senden speziell ausgebildete Hunde in das Gebäude, um die sterblichen Überreste von Opfern zu finden. Die Bergung und die Suche nach Ursachen für das Inferno könnten, so Dany Cotton, die Chefin der „London Fire Brigade“ (LFB), „noch Wochen dauern.“

Noch ist unklar, wer von den Bewohnern des Grenfell Tower aus der Flammenhölle flüchten konnte. Bis zu 600 Menschen lebten im Hochhaus, die Feuerwehr spricht davon, dass man 65 Mieter aus dem brennenden Gebäude habe retten können. Am Tag nach der Katastrophe gibt es herzzerreißende Geschichten von Überlebenden.

Mann fängt Baby aus 9. Stock auf

Eine Frau, die im 21. Stock wohnte, konnte noch rechtzeitig mit ihren sechs Kindern zum zentralen Treppenhaus laufen. Doch als sie unten ankam, vermisste sie zwei ihrer Kinder, die wahrscheinlich vom Rauch übermannt wurden. Eine andere Frau, die im 9. Stock wohnte, konnte nicht mehr fliehen, weil das Feuer zu weit fortgeschritten war. Sie warf ihr Baby aus dem Fenster, das von einem Mann aufgefangen werden konnte.

Die Schnelligkeit, mit der sich die Flammen ausbreiteten, ist der Hauptgrund für die katastrophale Entwicklung des Brandes. „Innerhalb von zehn Minuten“, sagte Augenzeugin Tanya Thompson, „ist das Feuer an der Seite des Gebäudes ganz nach oben geklettert.“

Neue Fassadenverkleidung wirkte wie ein Kamin

Der Grund für die vertikale Ausbreitung ist eine Fassadenverkleidung, die im letzten Jahr vorgenommen wurde, um den Betonbau aufzuhübschen. Dabei wurden Paneele verwendet, die nur bedingt feuerfest sind, aber bei hohen Temperaturen in Flammen aufgehen. So konnte das Feuer von außen von einer Wohnung auf die nächste überspringen.

Das sind die wichtigsten Regeln bei einem Brand

weitere Videos

    Zugleich wirkte die Verkleidung wie ein Kamin, der den Brand noch verstärkte. „In meiner 29-jährigen Karriere als Feuerwehrfrau“, sagte LFB-Chefin Dany Cotton, „habe ich noch nie ein solches Feuer erlebt. Und ich habe viele Hochhausbrände gesehen.“

    Mieter hatten Mängel schon vor Jahren gemeldet

    Nach ersten Erkenntnissen gab es viele Mängel. Mieter berichten, dass sie keinen Feueralarm gehört haben. Eine Sprinklersystem im Tower existierte nicht. Es gab nur eine Fluchtroute, das zentrale Treppenhaus, das allzu schnell durch Rauch unpassierbar wurde. Und eben die Fassadenverkleidung, die zum Brandbeschleuniger wurde.

    Viele dieser Mängel sind schon Jahre vor der Katastrophe von der Mietervereinigung gegenüber dem Vermieter gemeldet worden, aber nichts geschah: Man redete sich darauf hinaus, dass sämtliche Bau- und Feuerschutzvorschriften beachtet worden seien.

    Verantwortung führt bis in die Downing Street

    Doch vielleicht waren diese unzureichend. Nach einem Hochhausbrand im Jahre 2009 hatte es 2013 einen Bericht gegeben, der eine Reihe von Empfehlungen zum Brandschutz machte. Unter anderem: den Einbau von Sprinkler-Anlagen und die Überarbeitung von Bauvorschriften, um entflammbares Material als Fassadenverkleidung zu verbieten.

    Als der Londoner Grenfell Tower brannte

    Am 14. Juni 2017 zerstörte ein gewaltiges Feuer den Grenfell Tower in London. Es war der schlimmste Hochhausbrand der britischen Geschichte. Bei dem verheerenden Unglück starben 71 Menschen.
    Am 14. Juni 2017 zerstörte ein gewaltiges Feuer den Grenfell Tower in London. Es war der schlimmste Hochhausbrand der britischen Geschichte. Bei dem verheerenden Unglück starben 71 Menschen. © dpa | Matt Dunham
    Feuerwehr und Polizei wurden um 1 Uhr nachts alarmiert. Die Behörden entsandten daraufhin Helfer und Spezialisten.
    Feuerwehr und Polizei wurden um 1 Uhr nachts alarmiert. Die Behörden entsandten daraufhin Helfer und Spezialisten. © dpa | Uncredited
    200 Feuerwehrleute rückten an. „Das ist ein großer und sehr schwerwiegender Vorfall“, sagte damals Dan Daly von der Londoner Feuerwehr.
    200 Feuerwehrleute rückten an. „Das ist ein großer und sehr schwerwiegender Vorfall“, sagte damals Dan Daly von der Londoner Feuerwehr. © REUTERS | REUTERS / TOBY MELVILLE
    Auch während die Flammen loderten, sahen Augenzeugen noch Menschen in dem Gebäude.
    Auch während die Flammen loderten, sahen Augenzeugen noch Menschen in dem Gebäude. © REUTERS | TOBY MELVILLE
    Kilometerweit waren die Rauchwolke und das Feuer zu sehen.
    Kilometerweit waren die Rauchwolke und das Feuer zu sehen. © REUTERS | TOBY MELVILLE
    Auch Helikopter kamen in der Brandnacht am 14. Juni zum Einsatz.
    Auch Helikopter kamen in der Brandnacht am 14. Juni zum Einsatz. © REUTERS | TOBY MELVILLE
    Das Feuer produzierte Unmengen an Rauch.
    Das Feuer produzierte Unmengen an Rauch. © dpa | Matt Dunham
    Die verkohlte Ruine ragte einen Monat nach dem Brand wie ein Mahnmal über dem Viertel.
    Die verkohlte Ruine ragte einen Monat nach dem Brand wie ein Mahnmal über dem Viertel. © REUTERS | REUTERS / STRINGER
    Schaulustige versammelten sich in Sichtweite und beobachteten das Feuer.
    Schaulustige versammelten sich in Sichtweite und beobachteten das Feuer. © REUTERS | TOBY MELVILLE
    Doch nicht nur Schaulustige, sondern auch Helfer waren schnell vor Ort. In einer Turnhalle wurden provisorische Schlafplätze eingerichtet.
    Doch nicht nur Schaulustige, sondern auch Helfer waren schnell vor Ort. In einer Turnhalle wurden provisorische Schlafplätze eingerichtet. © dpa | Jack Hardy
    Vor allem in nahegelegenen Gemeindezentren gaben Londoner Bürger Spenden für die ehemaligen Bewohner des Hochhauses ab.
    Vor allem in nahegelegenen Gemeindezentren gaben Londoner Bürger Spenden für die ehemaligen Bewohner des Hochhauses ab. © Getty Images | Carl Court
    Zudem wurden zahlreiche Spenden von Firmen und Hilfsorganisationen in die Nähe des Brandortes gebracht.
    Zudem wurden zahlreiche Spenden von Firmen und Hilfsorganisationen in die Nähe des Brandortes gebracht. © Getty Images | Jack Taylor
    Die Feuerwehr schickte nach eigenen Angaben rund 40 Löschfahrzeuge an den Einsatzort.
    Die Feuerwehr schickte nach eigenen Angaben rund 40 Löschfahrzeuge an den Einsatzort. © dpa | Matt Dunham
    Riesige Rauchsäulen breiteten sich über dem Himmel Londons aus.
    Riesige Rauchsäulen breiteten sich über dem Himmel Londons aus. © REUTERS | TOBY MELVILLE
    Mit Wasserwerfern gingen die Einsatzkräfte gegen die um sich schlagenden Flammen vor.
    Mit Wasserwerfern gingen die Einsatzkräfte gegen die um sich schlagenden Flammen vor. © REUTERS | TOBY MELVILLE
    Nach Zeugenberichten standen viele Menschen verzweifelt im brennenden Hochhaus an den Fenstern und schrien um ihr Leben.
    Nach Zeugenberichten standen viele Menschen verzweifelt im brennenden Hochhaus an den Fenstern und schrien um ihr Leben. © dpa | Matt Dunham
    Trümmerteile lösten sich von dem Gebäude ...
    Trümmerteile lösten sich von dem Gebäude ... © REUTERS | TOBY MELVILLE
    ... und fielen noch brennend zu Boden.
    ... und fielen noch brennend zu Boden. © REUTERS | TOBY MELVILLE
    Die Behörden warnten zunächst davor, dass das Hochhaus womöglich einstürzen könnte.
    Die Behörden warnten zunächst davor, dass das Hochhaus womöglich einstürzen könnte. © REUTERS | NEIL HALL
    Das gesamte Gebiet um den Tower wurde deshalb abgesperrt.
    Das gesamte Gebiet um den Tower wurde deshalb abgesperrt. © REUTERS | TOBY MELVILLE
    Laut Nachbarn soll das Gebäude auch einen Kindergarten und einen Boxclub beherbergt haben.
    Laut Nachbarn soll das Gebäude auch einen Kindergarten und einen Boxclub beherbergt haben. © dpa | Ray Tang
    Eine Schule in der Nähe des brennenden Hochhauses in London blieb an dem Tag geschlossen.
    Eine Schule in der Nähe des brennenden Hochhauses in London blieb an dem Tag geschlossen. © Getty Images | Leon Neal
    Feuerwehr, Polizei und Rettungskräfte waren vor Ort. „Wir müssen die Leute in Sicherheit bringen und sie so schnell wie möglich medizinisch versorgen“, sagte der Leiter der Rettungskräfte, Stuart Crighton.
    Feuerwehr, Polizei und Rettungskräfte waren vor Ort. „Wir müssen die Leute in Sicherheit bringen und sie so schnell wie möglich medizinisch versorgen“, sagte der Leiter der Rettungskräfte, Stuart Crighton. © REUTERS | NEIL HALL
    Dutzende Verletzte wurden in verschiedene Krankenhäusern in der Stadt untergebracht. 71 Menschen kamen ums Leben. Dazu zählt auch ein nach dem Feuer tot geborenes Baby.
    Dutzende Verletzte wurden in verschiedene Krankenhäusern in der Stadt untergebracht. 71 Menschen kamen ums Leben. Dazu zählt auch ein nach dem Feuer tot geborenes Baby. © dpa | Rick Findler
    Dan Daly von der Feuerwehr sagte, die Feuerwehrleute würden Atemmasken tragen, die Arbeit sei extrem hart und die Bedingungen sehr schwierig – dementsprechend waren auch Pausen notwendig.
    Dan Daly von der Feuerwehr sagte, die Feuerwehrleute würden Atemmasken tragen, die Arbeit sei extrem hart und die Bedingungen sehr schwierig – dementsprechend waren auch Pausen notwendig. © dpa | Matt Dunham
    Die Polizei kümmerte sich um die Bewohner der Gegend. Hunderte Menschen wurden in Sicherheit gebracht.
    Die Polizei kümmerte sich um die Bewohner der Gegend. Hunderte Menschen wurden in Sicherheit gebracht. © REUTERS | NEIL HALL
    Das Areal rund um das brennende Hochhaus war weiträumig abgesperrt worden.
    Das Areal rund um das brennende Hochhaus war weiträumig abgesperrt worden. © dpa | Matt Dunham
    Nach Angaben des Stadtbezirks Royal Borough of Kensington and Chelsea befanden sich in dem Hochhaus 120 Wohnungen.
    Nach Angaben des Stadtbezirks Royal Borough of Kensington and Chelsea befanden sich in dem Hochhaus 120 Wohnungen. © dpa | Uncredited
    Auch am Vormittag stieg der Rauch noch aus dem Gebäude auf.
    Auch am Vormittag stieg der Rauch noch aus dem Gebäude auf. © Getty Images | Leon Neal
    Aus den angrenzenden Gebäuden beobachteten Anwohner das Feuer.
    Aus den angrenzenden Gebäuden beobachteten Anwohner das Feuer. © Getty Images | Leon Neal
    1/30

    Seit 2013 hat die Regierung noch nicht einmal auf den Bericht geantwortet, geschweige denn die Empfehlungen umgesetzt. Die politische Verantwortung führt bis in die Downing Street. Gary Barwell, der neue Stabschef von Premierministerin Theresa May, war in seinem vorherigen Job der zuständige Wohnungsminister, der die Empfehlungen ignorierte.

    Labour-Chef Corbyn forderte Aufklärung

    Labours Schattenminister für Wohnungsbau John Healey verlangte am Donnerstag die sofortige Einführung der Maßnahmen. Labour-Chef Jeremy Corbyn sprach davon, dass die Haushaltskürzungen für Kommunen den Brandschutz untergraben hätten und forderte eine rückhaltlose Aufklärung, wie es zu der Katastrophe kommen konnte: „Die Wahrheit muss herauskommen und wird herauskommen.“