Berlin. Gehen die Babyboomer in Rente, hinterlassen sie auch bei Polizei und Justiz große Lücken. Das bringt den Rechtsstaat an seine Grenzen.

Als im Mai in Köln der Prozess gegen 17 Neonazis platzte, war das Entsetzen groß. Anklagt waren sie wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Sachbeschädigung und Körperverletzung. Fast 1000 Seiten Anklageschrift, mehr als 300 Verhandlungstage, Prozesskosten im zweistelligen Millionenbereich – und dann ging der Vorsitzende Richter in Pension; und der Prozess wurde eingestellt. Der eingeplante Ersatzrichter konnte das Verfahren auch nicht retten, er hatte schon vor längerer Zeit wegen eines anderen Pensionsfalls bei der Staatsschutzkammer einspringen müssen.

Ist das die neue Normalität an den Gerichten? So weit könnte es kommen, befürchtet Jens Gnisa, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes (DRB). Gemeinsam mit Oliver Malchow, Bundesvorsitzendem der Gewerkschaft der Polizei (GdP), schlug er am Mittwoch in Berlin Alarm: Die deutsche Strafverfolgung, so die beiden, stehe vor einem ernsthaften Personalproblem.

Babyboomer müssen ersetzt werden

Den ungewöhnlichen Schritt, als Vertreter von Justizbehörden und Polizei gemeinsam vor die Presse zu treten, begründete Gnisa mit der engen Zusammenarbeit der Institutionen: „Wir bearbeiten dieselben Fälle“, so der Richter. „Es macht keinen Sinn, die Probleme in einem Bereich zu ignorieren, weil sie dann auf den anderen zurückschlagen.“

Ohnehin ist der Hintergrund des Problems in beiden Bereichen derselbe: Die Generation der Babyboomer, also der Kinder der geburtenstarken Jahrgänge der 50er und 60er, geht in Rente – und hinterlässt in vielen Teilen des Staatsapparats riesige Lücken.

Auch die öffentliche Sicherheit könnte leiden

Der Präsident des Bundesverwaltungsamts Christoph Verenkotte erklärte im April gegenüber dieser Redaktion, dass die Personalverluste in der Verwaltung so groß würden, dass der Staat möglicherweise nicht mehr in der Lage sein werde, bestimmte Dienstleistungen anzubieten. Die Richtervereinigung und die Gewerkschaft der Polizei warnen jetzt, dass darunter auch die öffentliche Sicherheit leiden könnte.

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Schon jetzt brauche Deutschland „mindestens“ 2000 zusätzliche Richter und Staatsanwälte, so Gnisa am Mittwoch. „Das ist eine Zahl, die sich unmittelbar auf die Sicherheit auswirkt.“ Der Mangel hat laut Gnisa bereits merkbare Konsequenzen: Die Zahl der eingestellten Verfahren steigt, ebenso die Dauer der Prozesse. Die langen Verfahren haben häufig Strafnachlässe zur Folge. In Wirtschaftsstrafsachen, so der DRB-Vorsitzende, gibt es mittlerweile in fast einem Drittel der Verfahren Strafrabatte.

Zu lange Verfahren führen zur Entlassung Verdächtiger

Besonders fatal: Dauern Verfahren zu lange, müssen dringend Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen werden. 40 bis 50 solcher Fälle hat es laut DRB 2015 und 2016 gegeben. Die Leute, die dabei entlassen würden, seien keine kleinen Fische, so Gnisa. „Das sind Kriminelle, denen erhebliche Straftaten vorgeworfen werden.“

Dass die Situation in den nächsten Jahren besser wird, ist nicht zu erwarten. Bis 2030 werden nach Angaben des DRB 41 Prozent der Richter und Staatsanwälte in Bund und Ländern – rund 10.000 Juristen – aus dem Dienst ausscheiden. Im Osten liegt der Anteil derer, die altersbedingt aufhören, sogar bei 62 Prozent. Gleichzeitig kämpfen die Behörden mit Nachwuchssorgen: Die Zahl der Jura-Absolventen sinkt, Bund und Länder müssen sich im Wettbewerb um qualifizierte Kandidaten gegen private Kanzleien behaupten, die oft ein Mehrfaches an Gehalt bieten.

Polizei kämpft schon jetzt mit Personalnot

Bei der Polizei ist die Lage laut Gewerkschafter Malchow nicht viel besser: 44.000 von insgesamt rund 215.000 Polizisten in Bund und Ländern würden bis 2021 in den Ruhestand gehen. Mit 74.000 geplanten Neueinstellungen werde darauf zwar reagiert, sagte Malchow. Wegen hohen Abbrecherquoten in der Ausbildung rechnet die Gewerkschaft aber nur mit 56.000 Bewerbern, die tatsächlich den Dienst aufnehmen.

Gegenüber dem Status quo wäre das ein Plus von 12.000 Stellen. „Wir bräuchten aber eigentlich 20.000 mehr“, sagt Malchow und verweist auf die jetzt schon angespannte Personalsituation, die beim G20-Gipfel sichtbar wurde: „In Hamburg waren 23.000 Kollegen im Einsatz. Da war auch nicht mehr drin.“

Viele Aufgaben nicht mehr zu leisten

Laut GdP haben Polizisten in Bund und Ländern 2016 kollektiv 22 Millionen Stunden Mehrarbeit geleistet. Verkehrskontrollen würden wegen der Überlastung kaum noch durchgeführt, Wohnungseinbrüche würden zum Teil eher „verwaltet“ als aufgeklärt und betroffene Bürger so „zum zweiten Mal zum Opfer gemacht“. Von Präventionsaufgaben habe sich die Polizei weitgehend „verabschiedet“.

„Es knatscht an allen Ecken und Enden“, fasst Gnisa die Lage zusammen. Die Politik müsse handeln. „Sonst sehe ich ein massives Sicherheitsdefizit auf uns zukommen.“

Ob der Prozess in Koblenz wieder aufgenommen wird, ist noch nicht klar. Das zuständige Gericht hat noch nicht entschieden.