Caracas. Die Opposition in Venezuela setzt weiter auf Protest. Ein Gespräch mit Julio Borges, Präsident der venezolanischen Nationalversammlung.

Julio Borges (47) ist einer der führenden Köpfe des venezolanischen Oppositionsbündnisses MUD. Er ist seit Anfang Januar Vorsitzender der Nationalversammlung, die von Präsident Nicolás Maduro kaltgestellt worden ist. Der Jurist gehört der konservativ-liberalen Partei „Primero Justicia“ (PJ) an. Er wird als Kandidat für eine künftige Präsidentschaftswahl gehandelt. Ende Mai reist er nach Deutschland, um für Unterstützung für den Kampf der Opposition zu werben.

Herr Borges, mehr als 40 Tage sind die Venezolaner jetzt auf den Straßen, um gegen die Regierung von Präsident Nicolás Maduro zu protestieren. Wie kann man die Ermüdung der Bevölkerung verhindern?

Julio Borges: Wir leisten hier schon viele Jahre Widerstand und sind nicht müde geworden. Die Erschöpfung und Wut in der Bevölkerung sind heute viel größer als 2001, als die Menschen erstmals auf die Straße gingen. Heute herrscht die einheitliche Überzeugung vor, dass wir schnell einen demokratischen Ausweg aus der Krise brauchen. Und die Energie der Straße wird zu einem guten Teil von der Hartnäckigkeit und Gewalt der Regierung genährt.

Durchlebt Venezuela den wichtigsten Moment seiner Geschichte?

Borges: Ohne Zweifel ist das seit der Ankunft von Kolumbus im Jahre 1498 der wichtigste Moment in der Geschichte unseres Landes. Wir erleben einen bisher unbekannten Widerstand in der Bevölkerung. Land und Menschen kämpfen für ihre Freiheit und zeigen, dass sie dieser historischen Verantwortung gewachsen sind. Venezuela ist heute eine Mischung aus kubanischer Kolonie und einem Land, das den Interessen anderer Staaten wie Russland und China gehorcht. Außerdem leiden wir erstmals seit dem Öl-Boom wieder Hunger.

Julio Borges, Präsident der venezolanischen Nationalversammlung.
Julio Borges, Präsident der venezolanischen Nationalversammlung. © REUTERS | GUADALUPE PARDO

Mehr als 40 Tote haben die Proteste in 40 Tagen gefordert. Steht Venezuela vor einem Bürgerkrieg?

Borges: Nein, denn einen Bürgerkrieg gibt es vor allem dann, wenn ein Land geteilt ist. Das ist heute nicht so. Wir haben die Diktatur einer Minderheit, die nicht von der Macht lassen und 90 bis 95 Prozent der Bevölkerung unterwerfen will. Wir sehen eine Bürger-Rebellion gegen ein totalitäres System, das national und international isoliert ist. Bei den Demonstrationen sieht man Alte, Junge, Arbeitslose, Sozialarbeiter, Arme und Reiche. Es ist ganz Venezuela gegen Nicolás Maduro.

Aber immer öfter sieht man auch jugendliche Regierungsgegner, die Sicherheitskräfte angreifen...

Borges: Ja, das ist bedauerlich und wir verurteilen das. Aber es ist vor allem die Regierung, die Gewalt sät. Sie lässt keine freien Wahlen und keine freie Presse zu, behindert die freie Meinungsäußerung und stellt das Parlament kalt.

Mit der Initiative für eine Verfassunggebende Versammlung überraschte Maduro Freund und Feind...

B orges: Das ist Maduros letzte Karte, geboren aus der Hoffnungslosigkeit. Aber niemand folgt seinem Aufruf, selbst aus den Reihen des Chavismus kommt Kritik, und die Internationale Gemeinschaft lehnt das Vorhaben ab. Zudem ist diese Constituyente undemokratisch, weil ihre Mitglieder nicht in freier Wahl bestimmt werden. Es ist ein Projekt ohne Zukunft. Wir brauchen keine Verfassunggebende Versammlung, sondern Rücksicht auf die Verfassung, die Maduro verletzt.

Will der Staatschef damit nur die Präsidentenwahl 2018 absagen?

Borges: Er hat bisher alle Wahlen abgesagt: das Abberufungsreferendum, die Gemeinde- und Regionalwahlen. Man muss davon ausgehen, dass er das mit der Präsidentenwahl genauso macht. Aber Maduro ist politisch tot. Wir müssen weiter kämpfen und die Streitkräfte daran erinnern, dass sie nicht seine Leibwächter sind, sondern auf der Seite der Verfassung stehen und die Wahlen garantieren müssen.

Blutiges Chaos in Venezuela

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    Ist das der Aufruf zu einem Putsch?

    Borges: Nein, ganz und gar nicht. Der hat ja schon seitens der Regierung stattgefunden.

    Sie reisen um die Welt, um Unterstützer für ihre Sache zu finden.

    Borges: Wir versuchen auf der einen Seite, in Lateinamerika einen demokratischen Block zu bilden, der gemeinsam Lösungen fordert. Denn hier geht es um Themen der ganzen Region wie Militarismus, Drogenhandel und Migration. Hunderttausende Venezolaner sind nach Kolumbien, Chile, Panama, Brasilien und die Dominikanische Republik ausgewandert und stellen diese Staaten vor Probleme. Auf der anderen Seite versuchen wir zu verhindern, dass internationale Banken, darunter auch die Deutsche Bank, Goldreserven der venezolanischen Zentralbank in Devisen eintauschen. Das ist ein zutiefst unmoralisches Verhalten, bei dem sich die Banken zum Komplizen einer Diktatur machen.

    Wie lange wird es noch dauern, bis die Proteste Erfolg haben oder zumindest Veränderungen eintreten?

    Borges: Das ist schwer zu sagen. Wir kämpfen für Werte ohne Verfallsdatum, deshalb müssen wir ohne Zeitvorgabe durchhalten. Aber ich hoffe, dass spätestens unsere Kinder wieder in einem Land mit Würde und Fortschritt leben können.

    Die Wahl von Hugo Chávez 1998 war auch die Reaktion auf das Versagen der bürgerlichen Vorgängerregierungen. Haben die Politiker daraus gelernt?

    Borges: In Venezuela haben sich immer zwei Übel vereint. Der Hang zum Autoritarismus und die Überzeugung, man könne alleine vom Öl leben. Diese beiden Probleme treten immer gemeinsam auf. Wenn wir alles richtig machen und die Geschichte nicht wiederholen, kann Venezuela ein demokratisches Land mit einem breiten Wachstum werden. Das Öl muss eine Lokomotive sein, um Venezuela zu entwickeln und eine tragfähige Industrie aufzubauen.