Ankara. Erdogan lässt sich für seinen Sieg beim Referendum feiern. Doch die Türkei ist in keinem guten Zustand. Ruhe ist noch nicht in Sicht.

Recep Tayyip Erdogan hat es ein weiteres Mal geschafft, aber nur ganz knapp. Der Sieg des türkischen Präsidenten beim Verfassungsreferendum ist glanzlos – und dennoch der wichtigste Erfolg seiner politischen Laufbahn. Erdogan zementiert seine Stellung an der Staatsspitze und baut seine Macht weiter aus. Aber die Türkei bleibt im Krisenmodus.

Nach dem Referendum: Vorwärts, immer – das Prinzip Erdogan

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    Es war ein ungleicher Kampf. Das „Ja“ war allgegenwärtig. Ungeniert setzte Erdogan Staatsressourcen ein, um für Zustimmung zu seinem Präsidialsystem zu werben – obwohl ihn die noch geltende Verfassung zur Neutralität verpflichtete. Der massiven Regierungskampagne hatten die Gegner der Verfassungsänderung wenig entgegenzusetzen.

    Der knappe Sieg ist ein Dämpfer für Erdogan

    Die bürgerliche Oppositionspartei CHP wirkt schon seit Erdogans erstem Wahlsieg 2002 wie gelähmt. Die Führung der pro-kurdischen HDP sitzt hinter Gittern. Die Nichtregierungsorganisationen sind in der Defensive, seit Erdogan im Zug der „Säuberungen“ nach dem gescheiterten Putschversuch hunderte Vereine und Verbände verbieten ließ. Regierungskritische Intellektuelle halten sich bedeckt. Die Entlassungen tausender unbequemer Akademiker und die Inhaftierung aufmüpfiger Journalisten verfehlen ihre einschüchternde Wirkung nicht.

    Erdogans Strategie der politischen Polarisierung ist gerade noch mal aufgegangen. Er setzte im Wahlkampf auf die Sehnsucht vieler Türken nach einem starken Mann, der das Land zu neuer Größe führt. Erdogan zeichnete das Bild einer im Ausland von Feinden umgebenen und im Innern von Verschwörern und Spionen bedrohten Türkei. Er dämonisierte die Europäer als „Nazi-Überbleibsel“ und rückte die Kritiker des geplanten Präsidialsystems in die Nähe von Terroristen. Das hat bei vielen verfangen, aber nicht bei allen, wie das Abstimmungsergebnis zeigt. Es ist ein Dämpfer für Erdogan.

    Versöhnung darf man wohl nicht erwarten

    Was kommt jetzt auf die Türkei zu? Die Opposition innerhalb und außerhalb des Parlaments wird darauf hoffen, dass der Druck nun etwas weicht und Erdogan die Daumenschrauben lockert. Schließlich hatte er noch am vergangenen Freitag versichert, er respektiere auch die Nein-Wähler. Doch schon nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt im August 2014 hatte Erdogan versprochen, er wolle ein Präsident „aller Türken“ sein – nur um dann noch schärfer gegen seine Kritiker vorzugehen. Dass Erdogan jetzt versöhnt statt weiter zu spalten, ist vor dem Hintergrund dieser Erfahrung unwahrscheinlich.

    Türkei-Referendum: So kann Erdogan jetzt durchregieren

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      Ob Erdogan seiner neuen Machtfülle wirklich froh wird, steht aber auf einem anderen Blatt. Die Türkei ist in keinem guten Zustand. Die Wirtschaft, in den ersten zehn Erdogan-Jahren seine stärkste Trumpfkarte, schwächelt. Die Arbeitslosigkeit hat den höchsten Stand seit sieben Jahren erreicht, die Inflation liegt gar auf einem Sechszehnjahreshoch. Das Land steckt tief im Treibsand der Bürgerkriege in Syrien und im Irak.

      Der Kurdenkonflikt ist wieder aufgeflammt. Eine beispiellose Terrorwelle hat das Land zermürbt und den Tourismus ruiniert. Das Verhältnis zur EU ist nach Erdogans europafeindlichen Wahlkampftiraden schwer beschädigt. Wie es repariert werden kann, ist nicht zu erkennen, zumal Erdogan nun auch noch die Todesstrafe wieder einführen will – eines seiner Lieblingsthemen seit dem Putschversuch. Macht er damit Ernst, wäre die Türkei nicht ihren Status als EU-Beitrittskandidat los, sondern auch ihren Sitz im Europarat.

      Türken stimmen für Präsidialsystem

      Am Sonntag stand die Türkei vor einer wegweisenden Entscheidung: für oder gegen ein Präsidialsystem, das Präsident Recep Tayyip Erdogan mehr Macht verleiht. Das Volk entschied zugunsten des Staatschefs.
      Am Sonntag stand die Türkei vor einer wegweisenden Entscheidung: für oder gegen ein Präsidialsystem, das Präsident Recep Tayyip Erdogan mehr Macht verleiht. Das Volk entschied zugunsten des Staatschefs. © dpa | Dha - Depo Photos
      Seit Sonntagmorgen waren die Wahllokale geöffnet. Etwa 55,3 Millionen Wahlberechtigte waren zur Stimmabgabe aufgerufen. Im Ausland waren zusätzlich 2,9 Millionen Türken zur Wahl zugelassen.
      Seit Sonntagmorgen waren die Wahllokale geöffnet. Etwa 55,3 Millionen Wahlberechtigte waren zur Stimmabgabe aufgerufen. Im Ausland waren zusätzlich 2,9 Millionen Türken zur Wahl zugelassen. © dpa | Michael Kappeler
      „Evet“ (Ja) oder „Hayir“ (Nein) – Darüber haben die Türken per Wahlzettel abgestimmt.
      „Evet“ (Ja) oder „Hayir“ (Nein) – Darüber haben die Türken per Wahlzettel abgestimmt. © dpa | Michael Kappeler
      Ein Wähler gibt in einem Wahllokal in Diyarbakir seinen Fingerabdruck. Die Millionenstadt wird überwiegend von Kurden bewohnt.
      Ein Wähler gibt in einem Wahllokal in Diyarbakir seinen Fingerabdruck. Die Millionenstadt wird überwiegend von Kurden bewohnt. © dpa | Emre Tazegul
      Auch Präsident Erdogan hat in einem Wahllokal in seiner Heimatstadt Istanbul seine Stimme abgegeben.
      Auch Präsident Erdogan hat in einem Wahllokal in seiner Heimatstadt Istanbul seine Stimme abgegeben. © dpa | Lefteris Pitarakis
      Gemeinsam mit seiner Frau Emine und im Beisein seiner Enkelin Mahinur nahm der türkische Präsident an der Abstimmung teil.
      Gemeinsam mit seiner Frau Emine und im Beisein seiner Enkelin Mahinur nahm der türkische Präsident an der Abstimmung teil. © dpa | Lefteris Pitarakis
      Nach der Stimmabgabe wurde Präsident Erdogan von seinen Anhängern freudig in Empfang genommen.
      Nach der Stimmabgabe wurde Präsident Erdogan von seinen Anhängern freudig in Empfang genommen. © dpa
      Das Präsidialsystem, für dessen Einführung bei dem Verfassungs-Referendum eine knappe Mehrheit votierte, wird Erdogan deutlich mehr Macht verleihen. Die Opposition warnte zuvor vor einer Ein-Mann-Herrschaft.
      Das Präsidialsystem, für dessen Einführung bei dem Verfassungs-Referendum eine knappe Mehrheit votierte, wird Erdogan deutlich mehr Macht verleihen. Die Opposition warnte zuvor vor einer Ein-Mann-Herrschaft. © dpa | Michael Kappeler
      In Istanbul, Ankara und Izmir – den drei größten Städten des Landes – überwogen die „Nein“-Stimmen. Die türkische Opposition kritisierte Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung und kündigte Einspruch an.
      In Istanbul, Ankara und Izmir – den drei größten Städten des Landes – überwogen die „Nein“-Stimmen. Die türkische Opposition kritisierte Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung und kündigte Einspruch an. © dpa | Michael Kappeler
      Staatschef Erdogan ließ sich von seinen Anhängern feiern. Das Volk habe eine „historische Entscheidung“ getroffen und der Verfassungsänderung zugestimmt, sagte Erdogan am Sonntagabend in Istanbul.
      Staatschef Erdogan ließ sich von seinen Anhängern feiern. Das Volk habe eine „historische Entscheidung“ getroffen und der Verfassungsänderung zugestimmt, sagte Erdogan am Sonntagabend in Istanbul. © dpa | Lefteris Pitarakis
      Unterstützer des „Ja“-Lagers zeigten ihre Freude über das Wahlergebnis mit einem Autokorso in Istanbul.
      Unterstützer des „Ja“-Lagers zeigten ihre Freude über das Wahlergebnis mit einem Autokorso in Istanbul. © dpa | Emrah Gurel
      Erdogan sagte vor begeisterten Anhängern in Istanbul, seine „erste Aufgabe“ werde sein, die Wiedereinführung der Todesstrafe auf die Tagesordnung zu setzen.
      Erdogan sagte vor begeisterten Anhängern in Istanbul, seine „erste Aufgabe“ werde sein, die Wiedereinführung der Todesstrafe auf die Tagesordnung zu setzen. © dpa | Emrah Gurel
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      Wahlergebnis muss Erdogan zu denken geben

      Das sind keine guten Aussichten. Die Spannungen mit Europa sind Gift für die ohnehin angeschlagene türkische Wirtschaft. Für sie ist die EU nicht nur der wichtigste Handelspartner. Auch die meisten ausländischen Investitionen kommen von dort. Es waren vor allem die europäische Perspektive und die 1995 geschlossene Zollunion, der die Türkei ihre Attraktivität für ausländische Investoren und Anleger verdankte. Mit dem Ja zum Präsidialsystem steuern die türkisch-europäischen Beziehungen jetzt einem neuen Tiefpunkt entgegen.

      Das scheint Erdogan nicht zu kümmern. Das knappe Wahlergebnis muss ihm aber zu denken geben. Er könnte nun vorzeitige Parlamentswahlen ansetzen, um seine Macht zu festigen, bevor sich die Erosion fortsetzt. Nach der Wahl ist vor der Wahl. So bald wird die Türkei nicht zur Ruhe kommen.