London/Brüssel. Die britische Premierministerin startet den Prozess des EU-Austritts. Aber wer wird beim Brexit Gewinner, wer wird Verlierer sein?

Neun Monate nach dem Brexit-Referendum hat der Countdown zum EU-Austritt Großbritanniens begonnen. In zwei Jahren sollen die Einzelheiten der Trennung unter Dach und Fach sein. Am Mittwoch traf der von Premierministerin Theresa May unterzeichnete Brief in Brüssel ein. Die Regierung in London hatte darin den Artikel 50 des EU-Vertrags angerufen, der den Austritt aus der Gemeinschaft regelt.

„Das ist ein historischer Moment, von dem es kein Zurück geben wird“, sagte May in London im Parlament. Sie versprach, Großbritannien werde auch nach dem Brexit weiter Europas „bester Freund und Nachbar sein“ und weiter die europäischen Werte teilen. Ihr Land strebe einen „reibungslosen und geordneten“ EU-Austritt an.

London will gleichzeitig mit den Gesprächen über den EU-Austritt ein umfassendes Freihandelsabkommen abschließen. Beobachter gehen jedoch davon aus, dass die Zeit für die Verhandlungen äußerst knapp bemessen ist. Am 29. April treffen sich die EU-Staats- und Regierungschefs zunächst zu einem Sondergipfel. Dort wollen sie die Leitlinien für die Unterhändler der EU-Kommission verabschieden. Hier ein Überblick über vier mögliche Szenarien für einen Verhandlungsausgang:

Szenario eins: Großbritannien setzt sich durch

Premierministerin May könnte dann einen großen Erfolg verbuchen, wenn sie vier wichtige Ziele erreichen würde. Erstes Ziel: Die Personenfreizügigkeit, eines der vier Grundprinzipien des europäischen Binnenmarkts, würde eingeschränkt. May argumentiert, dass die Briten im Brexit-Referendum dafür gestimmt hätten, wieder die volle Kontrolle über die Einwanderung von EU-Bürgern zurückzugewinnen. Die Brexit-Befürworter hatten immer wieder beklagt, dass zu viele Migranten aus Osteuropa ins Land kämen.

Zweites Ziel: Großbritannien erlangt wieder die volle Souveränität über die Gesetze des Landes zurück. Das bedeutet, dass die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg, das Schiedsgericht in EU-Rechtsfragen, nicht mehr für das Vereinigte Königreich gilt. Drittes Ziel: Die Briten leisten keine Geldzahlungen mehr in den EU-Haushalt. Und, das strategische Königsziel: London erhält ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU. Immerhin wickelt Großbritannien rund 45 Prozent seines gesamten Außenhandels mit den Staaten der EU ab.

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    Einen vollen Zugang zum europäischen Binnenmarkt wird die Gemeinschaft nicht genehmigen. Für Brüssel ist das verknüpft mit wesentlichen Zugeständnissen, etwa bei der Personenfreizügigkeit oder der europäischen Gerichtsbarkeit. Annäherungen in Teilbereichen sind aber durchaus möglich. So ist zwar nicht denkbar, dass Großbritannien regelmäßig Gelder an die EU überweist. Aber eine Einmalzahlung halten Experten für realistisch.

    Szenario zwei: Die EU setzt sich durch

    Das Traumszenario der EU-Resteuropäer wäre ganz einfach: Die Briten kommen zur Vernunft, bevor der EU-Austritt formell vollzogen ist. Im Zuge der Verhandlungen dämmert der Regierung in London, dass der Brexit ein wirtschaftlicher Holzweg, ein politischer Mühlstein, ein bürokratisches Monster-Unternehmen ist. Wichtige Mitstreiter kündigen May die Gefolgschaft auf und verlassen die Brexit-Mannschaft. Die bedrängte Premierministerin sucht ihr Heil in Neuwahlen. Doch die Mehrheit ihrer Landsleute glaubt nicht mehr an die Verheißungen der Austrittsenthusiasten und schickt sie in die Wüste. Die Scheidung wird abgesagt, der Brexit bleibt ein schwarzes Zwischenspiel – und ein heilsamer Blick in den Abgrund.

    Das erleichtert es den Partnern auf dem Kontinent, die Schadenfreude zu unterdrücken.

    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gibt den Ton vor: Wir begrüßen die verloren geglaubten Söhne und Töchter Albions mit Freude zurück in unseren Reihen! Wir verdanken ihnen viel. Sie waren das abschreckende Beispiel, das es uns leichter gemacht hat, die rechtspopulistischen und europafeindlichen Parolen in unseren eigenen Ländern erfolgreich zu bekämpfen. Die Realisten in Brüssel und anderswo haben dafür aber nur einen trockenen Kommentar: zu schön, um wahr zu sein.

    Szenario drei: Beide Seiten profitieren

    Für die EU wäre es ein großer Vorteil, weiterhin einen möglichst ungehinderten Zugang zum britischen Markt zu haben. Denn Großbritannien importiert weit mehr Güter aus der EU, als es britische Produkte in den Binnenmarkt exportiert. Es läge also im europäischen Interesse, sich den Absatzmarkt der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt ohne Zollschranken zu erhalten. Mehr als 2500 deutsche Unternehmen verfügen über Niederlassungen in Großbritannien – sie wollen bestimmt keine neuen Handelsschranken. Die Automobilbranche profitiert davon ebenso sehr wie der Maschinenbau oder die Elektroindustrie.

    Es wäre denkbar, dass beide Seiten im Zuge der Brexit-Verhandlungen Kompromisse finden. Im Gegenzug könnte Großbritannien, das ja in vielen Wirtschaftsbereichen auf EU-Arbeitskräfte angewiesen ist, großzügige Einwanderungsquoten anbieten. Dafür könnte die EU einen privilegierten Zugang zum Binnenmarkt in einzelnen Sektoren erlauben – zum Beispiel auf dem Automobil- oder Pharmamarkt.

    Auch eine enge Kooperation bei der inneren und äußeren Sicherheit würde beiden Seiten nutzen. Großbritannien ist neben Frankreich die einzige Atommacht in Europa und somit ein wichtiges Nato-Mitglied. Insbesondere die osteuropäischen Staaten halten das britische Engagement im Baltikum für wichtig. Die britischen Geheimdienste nehmen – nicht zuletzt dank ihrer hervorragenden Beziehungen zu den USA – eine Spitzenstellung in der Terrorabwehr ein. Für die EU ist diese Expertise unverzichtbar.

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      Ein Schulterschluss bei Militär und Terrorabwehr ist sehr wahrscheinlich, weil dies sowohl Großbritannien als auch der Rest-EU zugutekäme. Eine Mischlösung mit Zugeständnissen von beiden – ein bisschen Zugang zum EU-Binnenmarkt für die Briten gegen ein Mindestmaß an EU-Einwanderung – dürfte Brüssel dagegen ablehnen.

      Szenario vier: Beide verlieren

      Das schlimmste Szenario wäre „No deal“ – die Unterhändler schaffen es nicht, sich auf einen Vertrag zu einigen. Oder das Ergebnis fällt anschließend bei der Ratifizierung in den EU-Mitgliedsstaaten durch. Bei einem derart ungeordneten Brexit hätte das Vereinigte Königreich keinen Zugang mehr zum europäischen Binnenmarkt oder zur Zollunion. EU-Chefunterhändler Michel Barnier hat mit ein paar deftigen Pinselstrichen skizziert, was das bedeutet: Drosselung des Flugverkehrs, Schlangen an den Kanalfähren in Dover, Liefer-Storno für Brennmaterial für die britischen Atomkraftwerke.

      Die britischen Farmer würden ihre EU-Subventionen einbüßen, die Finanzhäuser der Londoner City lukrative Geschäfte an den Kontinent verlieren. Die Europäische Arzneimittel-Agentur zöge aus London ab und bekäme ein neues Domizil in der Rest-EU. Die hätte indes zu Schadenfreude keinen Anlass. Nicht nur wäre die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas abgängig, sondern auch der wichtigste europäische Spieler auf der internationalen Bühne. Dieses Szenario kann so gut wie ausgeschlossen werden: Keine Seite hat ein Interesse daran, derart massiv zu verlieren.