Berlin. Politiker treten zurück, weil sie im Internet beleidigt werden. Von der Justiz fühlen sie sich im Stich gelassen. Was tut die Regierung?

Als sich die Klagen häufen, beschließt Norbert Lammert, der Sache auf den Grund zu gehen. Im Juli 2016 fragt der Bundestagspräsident bei allen Landtagen die Daten über Straftaten gegen Abgeordnete ab. Das Ergebnis ärgert Lammert. Es fehlen hinreichend belastbare Erkenntnisse über die Hetze in Mails und über die sozialen Netzwerke.

Der Eindruck ist, dass die Zahlen erheblich sind und steigen. Sind die Strafen nicht abschreckend genug oder ist die Justiz zu lasch? Und wer macht sich bei der Polizei die Mühe, die Fälle zu dokumentieren und statistisch zu erfassen? Das sind die Fragen, die sich aus Lammerts Brief vom 16. Dezember an die Innen- und Justizminister des Bundes und der Länder destillieren lassen. Bislang hat er keine Antwort erhalten.

Nie war der Respekt vor der Politik so gering, nie die Wut so groß und nie so leicht, sie anonym zu artikulieren, in Mails, und Tweets oder auf Facebook. Im März 2016 verurteilt ein Gericht in Dresden einen Mann zu einer Geldstrafe von 1200 Euro, weil er gepostet hatte, SPD-Chef Sigmar Gabriel gehöre „standrechtlich erschossen“. 2000 Euro muss einen Monat später ein 28-Jähriger in Bochum zahlen, der dazu aufgerufen hatte, die Kanzlerin „öffentlich zu steinigen“.

Zehn Monate Bewährung für Posting zu Konzentrationslager

Im Oktober verurteilt das Amtsgericht in Oldenburg einen 47-Jährigen zu zehn Monaten Haft ohne Bewährung. Er hatte gepostet, Konzentrationslager „wieder in Betrieb“ zu nehmen. Es gibt viele Urteile. Aber sie stehen nicht in Relation zum Hass. Allein der Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon (Grüne) hat binnen weniger Wochen 350 Hassmails erhalten, darunter auch Morddrohungen. Er hatte nach der Festnahme eines mutmaßlichen Mörders, einem Flüchtling, die Bürger zur Besonnenheit aufgerufen.

Es sind häufig Politiker von den Grünen und der Linkspartei, die angefeindet werden, weil sie sich für Flüchtlinge einsetzen. Die Politiker werden bedrängt, angepöbelt, ihre Autos angezündet, Parteibüros beschmiert. Laut Innenministerium gab es 2016 mehr als 800 Übergriffe auf Amts- und Mandatsträger, in 18 Fällen ging es sogar um tätliche Angriffe und um Brandstiftung.

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Die digitale Wut ist eine Variante des Hasses. Er trifft alle, nicht nur Politiker. Sie stehen aber in der Öffentlichkeit und damit stärker im Fokus als andere. Bundesweit für Schlagzeilen sorgt Mitte Dezember der Fall Thomas Purwin. Er tritt als Chef der SPD in Bocholt zurück. Die rote Linie ist für ihn überschritten, als auch Partnerin und Tochter bedroht werden.

Da sagt Purwin: „Wenn’s gegen die Familie geht, ist Feierabend.“ Politiker erstatten zunehmend Anzeige. Die Grünen-Abgeordnete Renate Künast, die im Netz beschimpft wird, wählt noch einen anderen Weg: Sie besucht unangemeldet Menschen, die diese Hasskommentare verfasst haben, und stellt sie zur Rede. Erfolglos ist Künast nicht. Immerhin hat sie viele beschämt.

Sogar Mordaufrufe werden im sozialen Netz gepostet

„Mordaufrufe gehören nicht ins Netz, sondern vor einen Richter“, sagt Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD). Mordaufrufe sind allerdings die Spitze des Eisbergs. Der springende Punkt ist vielmehr, ob die digitale Wut von Staatsanwälten und Richtern bagatellisiert wird. Der Chef des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, fordert, Politiker-Stalking zum eigenen Straftatbestand zu machen. Maas zögert.

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Er konzentriert sich darauf, Druck auf Facebook auszuüben, strafbare Inhalte schneller zu löschen. Eine Möglichkeit wäre, soziale Netzwerke für nicht gelöschte strafbare Inhalte haftbar zu machen und obendrein Bußgelder zu erheben. Außerdem könnten Facebook, Twitter und Co. verpflichtet werden, öffentlich zu berichten, wie viele Beschwerden es gegeben hat und welche Folgen sie hatten.

Bei jeder Sitzung der EU-Justizminister wird Maas auf die Hasskriminalität und auf die Hetze im Netz angesprochen. Wenn er Anfang Februar nach Israel fliegt, ist es dort ein Thema. Alle schauen darauf, wie Deutschland das Problem beherrscht.