Berlin. Ein Baumstumpf fliegt in Berlin von einem Balkon, erschlägt einen Jungen (8). Jetzt gibt es Gerüchte – von Rache bis zu Mittäterschaft.

Der Blick wandert erst nach oben, tastet die 15 Balkone ab, Stockwerk für Stockwerk, bis das Hochhaus in den grauen Herbsthimmel übergeht. Dann erst treten die Kinder an den Teppich aus Grablichtern. Seit drei Wochen liegt er da, bedeckt die Gehwegplatten, die Bordsteinkante, den Asphalt vor dem hintersten Hochhaus an der Tiefenseer Straße im Märkischen Viertel. Laub hat sich zwischen welken Blumen und Teddybären verfangen.

Zwei Mädchen mit blonden Zöpfen und rosa Jacken stehen davor, tratschen, zeigen auf die Plüschtiere. Ein Junge in Jogginganzug tritt aus dem Haus, kniet vor den Grablichtern auf dem Boden nieder, formt die Handflächen zu zwei Schüsseln auf seinen Oberschenkeln. Er betet. Der Vater der zwei Mädchen tritt um die Ecke. Nervös. „Geht weg da. Wie oft noch?“

Ibrahim, ein fröhlicher Junge, ist plötzlich tot

Berührender Anblick: Ein Meer aus Grablichtern, Kuscheltieren und Beileidsbekundungen vor dem Hochhaus.
Berührender Anblick: Ein Meer aus Grablichtern, Kuscheltieren und Beileidsbekundungen vor dem Hochhaus. © David Heerde

Das Grablichterteppich, er hat sich über jene Stelle gelegt, an der vor drei Wochen, am Sonntagnachmittag, der achtjährige Ibrahim starb. Ein fröhlicher Junge, wie man sich hier erzählt, einer, der ständig draußen war. Er fuhr mit seinem Cousin auf einem BMX-Rad, der eine vorne, Ibrahim hinten, er stand auf den Halterungen am Hinterrad.

Dann flog ein Stück eines Birkenstammes, etwa 15 Kilo schwer, vom Balkon im sechsten Stock auf Ibrahims Kopf. Ein Zehnjähriger hatte den Baumstamm über die Brüstung gewuchtet. Ibrahim war kurz danach tot.

Es ist eine Tragödie, bei der es nur Opfer gibt

Ein Junge hat ohne Absicht einen anderen getötet. Ein Leben fand nach nur acht Jahren ein brutales Ende. Eine tschetschenische Familie trauert um den einzigen Sohn. Manche Eltern verbieten ihren Kindern jetzt, alleine rauszugehen.

Es heißt, Rache an der Familie des Täters könnte folgen. Ermittler sagen, es seien bereits Drohungen ausgesprochen worden. Über Tage war die Polizei vor Ort. Die Nachbarschaft stehe weiter unter besonderer Beobachtung, heißt es aus Polizeikreisen. Was macht all das mit einem Viertel, dem ohnehin immer das Wort „Problem-“ vorangestellt wird?

Angst, Trauer, Wut – und ein riesiges „Warum?“

Fragt man die Anwohner, bekommt man immer wieder diese Worte zu hören: Angst, Trauer, Wut. Und: Warum? Die objektive Antwort klingt zynisch, kalt: Darum. Ein dummer, schrecklicher Zufall. Aber das scheint hier kaum jemandem zu reichen.

Und so ist der Grablichterteppich nicht nur zu einem Ort der Trauer und Solidarität geworden. Es ist auch ein Ort, an dem die Menschen Antworten suchen. Dabei vermischen sich Tatsachen mit Gerüchten, Gefühltes mit Erlebtem, Vorurteile mit Fakten. Am Ende finden manche Gründe für Ibrahims Tod. Und Schuldige.

Anwohnerin hörte die Schreie

Da ist die Afghanin Latifa Hashimi. Ihren echten Namen will sie lieber nicht in der Zeitung lesen. Sie wohnt seit 17 Jahren in dem Haus, vor dem Ibrahim starb. Als die fünfköpfige Familie damals in das von Leerstand und Getto-Ruf geprägte Viertel zog, wurden sie dafür mit Möbelgutscheinen belohnt.

Hashimi trägt einen roten Schal locker über den gewellten Haaren, duckt sich unter die Überdachung vor dem Eingang. So muss sie nicht ständig nach oben zu den Balkonen blicken. An jenem Sonntagnachmittag vor zwei Wochen hat sie ein Schrei an ihr Fenster gelockt, sie blickte nach unten, sah ein Fahrrad, den Jungen, dann das Blut, viel und dunkel.

Ärger und Fassungslosigkeit in gefetteten Großbuchstaben

Für die Anwohner ist der Vorfall immer noch schwer erträglich.
Für die Anwohner ist der Vorfall immer noch schwer erträglich. © David Heerde

Seitdem schläft sie schlecht, ihr jüngster Sohn traut sich nicht mehr alleine zum Bolzplatz. Sie deutet auf eines der unteren Stockwerke des Hauses, sagt, dass dort immer wieder Dinge aus dem Fenster geflogen sind. Müllsäcke, volle Windeln, leere Flaschen, Möbelstücke. Sie habe sich oft beim Hausmeister beschwert. Nie sei etwas passiert. Jemand hat ein DIN-A4-Blatt an die Eingangstür geklebt. Der Autor hat Ärger über fehlenden Anstand mit Fassungslosigkeit in gefettete Großbuchstaben gefasst. „Bitte ... hört endlich auf, Möbel aus dem Balkon runterzuwerfen.“ Gezeichnet: „Euer verärgerter Nachbar!!“

Viele hier haben das Gefühl, die Häuserblocks würden der Verwahrlosung überlassen. Ein Mann aus dem 15. Stock erzählt, immer wieder würden Junkies über die kaputte Notfalltür ins Haus gelangen, Crystal Meth rauchen.

Hashimi will wegziehen, weiß aber nicht, wohin. Die Zeiten von Leerstand und Einzugsprämien sind lange Vergangenheit. Mieter wie Hashimi fühlen sich von der Gesobau, dem landeseigenen Unternehmen, das die Wohnungen hier vermietet, alleingelassen.

Messerstechereien, Drogen, Gewalt

Wir müssen das entschieden von uns weisen“, sagt eine Gesobau-Sprecherin. Und in der Tat scheint es nicht so, als sehe das Wohnungsbauunternehmen tatenlos auf soziale Probleme im Kiez. Es gibt ein Hausmeisterprojekt. Die kommen jetzt aus dem Kiez, sind direkte Ansprechpartner für die Bewohner. Die Gesobau unterstützt Nachbarschafts- und Senioreninitiativen, Sportvereine und Jugendprojekte. Man ist bemüht, das Problemviertelimage aus der Welt zu schaffen.

Aus Befragungen wisse man: 70 Prozent wohnten mit Zufriedenheit im Märkischen Viertel. Zumindest in dem Haus, vor dem der junge Tschetschene starb, klingen die Bewohner anders. Ein junger Mann aus dem 11. Stock sagt mit Blick auf die Grablichter: „Das war eine Frage der Zeit. Das Märkische eben.“

Alle erzählen sie hier von Messerstechereien, Drogen, Gewalt. Sie berichten meist von denselben, medial bekannten Vorfällen. Fragt man die Menschen, ob sie selbst bedroht wurden, verneinen alle. Eine Nachbarin sagt, sie fühle sich unwohl, weil abends viele Männer draußen stünden. Aber alle sind sich einig: In den letzten Jahren ist es schlimmer geworden hier.

Gebiet mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf

Polizisten stehen am 14. Oktober kurz nach dem Unglück vor dem Hochhaus im Märkischen Viertel in Berlin.
Polizisten stehen am 14. Oktober kurz nach dem Unglück vor dem Hochhaus im Märkischen Viertel in Berlin. © dpa | Paul Zinken

Die aktuellsten Kriminalitätszahlen, die sich auf das Viertel herunterbrechen lassen, stammen von 2015. Betrachtet man die, stellt man fest: Das Märkische Viertel ist kein Hotspot der Kriminalität in der Stadt. Aber: Seit 2012 nahmen Drogendelikte um rund ein Viertel zu, Fälle von gefährlicher Körperverletzung leicht.

Das Monitoring Soziale Stadtentwicklung der Sozialsenatsverwaltung, das Stadtteile nach Gesichtspunkten wie Kinderarmut, Arbeitslosigkeit und der Abhängigkeit von sozialen Leistungen bewertet, bezeichnet im Bericht für 2017 die Hochhausburgen rund um das Märkische Zentrum als Gebiet mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf. Der Sozialstatus wird als „sehr niedrig“ bewertet. Verändert hat sich das in den letzten Jahren nicht.

Zusammenhang zwischen Lebensumfeld und dem Unglück?

Bleibt die Frage: Kann es einen Zusammenhang geben zwischen sozialen Problemen, Kriminalität und einem Jungen, den an einem Sonntagmittag eine Videokamera dabei filmte, wie er gegen 13.20 Uhr alleine den Baumstamm in den Aufzug schleppte und ihn wenig später von einem Balkon kippte – ohne sehen zu können, dass unten der achtjährige Ibrahim auf einem Fahrrad vorbeirollte?

Glaubt man Nachbarn wie Barbara Stokrocka, dann gibt es Zusammenhänge. Sie deutet auf eines der unteren Stockwerke und erzählt von einer Romafamilie aus Rumänien. Das Gerücht hält sich: Deren Junge soll den Baumstamm geworfen haben. Stokrockas Schwägerin kommt zum Gespräch bei den Grablichtern. Sie wohnt direkt unter besagter Familie. Vom Sohn zeichnet sie das Bild eines kleinen Teufels, der die Nachbarschaft terrorisiere.

Familie wohnt bereits woanders, der Junge wird begutachtet

Spricht man mit Ermittlern, wird klar: Die Romafamilie wird zu Unrecht verdächtigt. Der Täter habe gar nicht in jenem Haus gewohnt, auf das hier alle deuten. Zwei Tage nach dem Todesfall wurde die Familie des mutmaßlich tatsächlichen Täters auf Veranlassung der Polizei woanders untergebracht. Man werde sich weder zum Aufenthaltsort noch zur Identität der Familie äußern, da eine Gefährdung nach wie vor nicht gänzlich ausgeschlossen werden könne, heißt es seitens der Behörde.

Der Junge befindet sich in der Obhut des Jugendamtes. Die Ermittlungen laufen weiter. Sind sie am Ende, wird das Verfahren eingestellt. Mit zehn Jahren ist er nicht strafmündig. Eine psychiatrische Begutachtung soll ergeben, ob er für sich oder andere eine Gefahr darstellen könnte.

Rachegerüchte machen die Runde

Noch immer legen Menschen Blumen für Ibrahim nieder.
Noch immer legen Menschen Blumen für Ibrahim nieder. © David Heerde

Einer, der Täter und Opfer kannte, arbeitet nur wenige Meter vom Grablichterteppich entfernt. Torsten Schmidt leitet die Baracke, ein Jugendhaus des Christlichen Vereins Junger Menschen. Sofas, eine große Leinwand, Playstation. Hier macht Schmidt Sozialarbeit. Oder, wie er es nennt, alles, was den Kindern hilft, um mit sich und der Gesellschaft zurechtzukommen: Hausaufgabenhilfe, Musik, Sport, Workcamps.

Über den Zehnjährigen sagt er: „Das war ein sehr frecher Junge, der kaum Konsequenzen für sein Handeln tragen musste.“ Der Teufel, zu dem er nun stilisiert werde, sei er sicher nicht. Ein Rotzlöffel, würde man sagen, der sich gerne von größeren Geschwistern zu immer neuen Dummheiten anstacheln ließ.

Im Viertel wird darüber diskutiert, ob sich Familienmitglieder des Opfers wohl rächen wollen. Schmidt sagt, sie seien vor allem an einem ruhigen Leben in Deutschland interessiert. Denkbar sei aber, dass jemand aus der tschetschenischen Community auf eigene Faust handeln könnte. „Die machen hier viel unter sich aus“, sagt Schmidt.

Und die Verrohung der Gegend? Schmidt spricht von organisierter Kriminalität, Drogenproblemen. Aber dass es in den letzten fünf Jahren immer schlimmer werde, das höre er, seitdem er hier arbeite. Also seit elf Jahren. Und: Wenn in einer Einfamilienhaussiedlung eine Gewalttat geschehe, bekomme das womöglich keiner mit. Hier, in den Hochhäusern des Märkischen Viertels, ist das am nächsten Tag Gesprächsthema bei 500 Nachbarn.

Vermutungen über eine mögliche Mittäterschaft

Hat gesehen, wie der Baumstamm flog: Sabine Hamann.
Hat gesehen, wie der Baumstamm flog: Sabine Hamann. © David Heerde

In der Nähe des Grablichterteppichs hält Sabine Hamann ihren braunen Pitbull an einer Leine, die weiße Dogge an der anderen. Die Mädchen – zwei ihrer sechs Kinder – versucht sie mit lauten Rufen von den Häusern weg zu dirigieren. Hamann steht jetzt da, von wo aus sie vor drei Wochen den Baumstamm fliegen sah. Sie sagt, sie sei in psychologischer Behandlung, erzählt vom Geräusch, das sie nie vergessen wird. Ein lauter Knall. Der Baumstamm habe den Jungen am Hinterkopf getroffen.

Hamann sagt: Sie habe den Baumstamm in hohem Bogen fliegen sehen. Sie äußert einen Verdacht, der viele Menschen hier umtreibt. Kann ein Zehnjähriger diese Kraft aufwenden? Hatte er einen Helfer, womöglich einen im straffähigen Alter?

Laut Polizisten Lücken im Tatablauf

Von Ermittlern heißt es, die Befragung des Zehnjährigen stocke, es gebe Lücken im Tatablauf. Es gehe unter anderem um die Frage, ob an der Tat noch weitere, insbesondere strafmündige Personen beteiligt gewesen seien, sagt eine Justizsprecherin.

Gerüchte und Anschuldigungen wurden im Viertel in den letzten Wochen viele ausgesprochen. Das sagen Ermittler, das sagt Sozialarbeiter Schmidt. Im Viertel lebten 40.000 Menschen aus 117 Nationen. Da sei es schnell um die Frage gegangen, aus welcher Community die Familie des Täters stamme. Ibrahim war kaum tot, da sei das Gerücht über die Romafamilie schon in der Welt gewesen. Seither versuche er, den Kindern hier das Prinzip der Unschuldsvermutung nahezubringen.

Junge ist in Tschetschenien beigesetzt worden

Aber Schmidt sagt auch: „So viel Anteilnahme, über Nationalitäten hinweg, habe ich hier noch nie erlebt.“ Anwohner hätten angeregt, eine Gedenktafel am Jugendzentrum anzubringen. Um den Eltern einen Ort zum Trauern zu geben. Beigesetzt wurde Ibrahim in Tschetschenien.

An einem Nachmittag stehen fünf kleine Mädchen am Grablichterteppich. Eines zeigt dem Reporter eine Kerze – für Ibrahim, von seinen Eltern. Die Kerze hat eine weiße Papphülle, drauf ein betender Engel. In den Wachsresten klebt ein Marienkäfer. Der bringe Glück, sagt das Mädchen.

Dieser Text ist zuerst auf morgenpost.de erschienen.