Berlin. Die Fußball-Nationalmannschaft ist nach dem WM-Aus nicht der Sündenbock, sondern ein Spiegel der Nation. Das zeigen andere Krisen.

Es gibt auch eine gute Nachricht: Dieses Ergebnis war ehrlich. Nicht Pech noch Schiri, weder Fußballgott noch Todesgruppe waren schuld. Die Verantwortung trugen die deutsche Elf, Trainer und Verband allein. Die glasklare Erkenntnis lautet: Das war zu wenig. Die anderen waren gut und besser. Das Ausscheiden ist verdient. Basta.

Auch wenn Fußballanalogien mit Vorsicht zu verwenden sind, so überbringt diese Weltmeisterschaft einem wohlstandssatten Land eine deutliche Botschaft: Weltspitze ist, wenn alle alles geben, wenn das Wesentliche den Kleinkram verscheucht, wenn das Ego keine Chance gegen Teamgeist hat. Motivationsexperten wissen: Sind körperliche Fitness, Taktik und Technik nahezu gleich, dann entscheidet Wille und Hunger, Lust und Begeisterung.

Womit wir beim Rest des Landes wären: Kann es sein, dass diese Mannschaft nicht Sündenbock, sondern Spiegel der Nation ist? Das Phänomen satter Selbstzufriedenheit ist aus dem Jahre 1990 wohlbekannt. Damals erklärte der Bundestrainer Beckenbauer nach dem WM-Sieg, die deutsche Elf sei auf Jahre hin unbesiegbar, es klangen die „blühenden Landschaften“ durch. Es folgten die Viertelfinal-Pleiten 1994 und 1998. Es spricht für die begrenzte Lernfähigkeit jenes Meisen-Kaisers, dass er seine Großmäuligkeit 2014 nahezu wortgleich wiederholte und den Beginn einer deutschen Fußball-Ära ähnlich der spanischen weissagte. Eine Selbstüberschätzung, aus der Bequemlichkeit wuchs, gepaart mit einer lässigen Verachtung für den Rest der Welt. Morbus Diesel.

Wir vergeuden Energie mit dem Zündeln auf dem Nebenplatz

Es brauchte den besessenen Matthias Sammer, der ab 2006 die Talentförderung des DFB auf Trab brachte. Es war die Zeit, als Bundeskanzler Gerhard Schröder ein müdes Land mit seiner Agenda 2010 aufrüttelte. Schröders wie Sammers Impulse waren mutig und verwegen, haben sich im vergangenen Jahrzehnt aber zusehends aufgebraucht. Der deutsche Fußball 2018 ist wie das Land in die alte, maulige Selbstgefälligkeit abgeglitten. Wir vergeuden Energie mit dem Zündeln auf dem Nebenplatz, mustergültig vorgeführt von Bayerns CSU, die gesundes Selbstbewusstsein mit krankhafter Ich-Bezogenheit verwechselt.

Die SPD agiert seit Jahren auch nicht vernünftiger. Und Bundeskanzlerin wie Bundestrainer halten es für eine Strategie, erst im letzten Moment auf lang bekannte Missstände zu reagieren. Die miserable Serie der Vorbereitungsspiele war Warnung genug, so wie der seit Jahren schwindende Einfluss Deutschlands in Europa, die blamablen Tricksereien der Autokonzerne, der schleppende Fortgang bei der Digitalisierung, Stillstand in Verwaltungen und Verkehr, Daueralarm aus dem Bildungsbereich.

Ins Mystische aufgeblasene Kicker

Satirehaft illustrierte die TV-Reklame in der Halbzeit des Südkorea-Spiels den Selbstbetrug. Da wurde für ein schnelles Internet geworben, das es so kaum irgendwo gibt, und für Karossen eines Unternehmens, dessen Chef in Untersuchungshaft sitzt. Und immer wieder ins Mystische aufgeblasene Kicker. Von Team keine Spur.

Danke, liebe Nationalmannschaft, für diesen in seiner Wucht nicht mehr zu überhörenden Weckruf. Zeit zum Aufwachen. Zeit, Ritualisiertes und Symbolhaftes hinter sich zu lassen und das Land in böser Absicht schlechter zu reden, als es ist. Vor allem aber: Zeit zum demütigen, zugewandten Miteinander.

Die Zukunft braucht gemeinsame Verantwortung, gemeinsames Priorisieren, die Bereitschaft zum pragmatischen Kooperieren. Nicht zurück zu einem Früher, das es so nie gab, sondern auf in eine etwas rauere Zukunft, von der bislang nur eines klar ist: Dieses Land kann darin nur bestehen, wenn sich die Klugen und die Mutigen, die Hungrigen und Energiegeladenen zusammenschließen. Mit Wohlstandsmüden und Machtversessenen ist kein Blumentopf zu verteidigen, erst recht kein internationaler Pokal. „Made in Germany“ ist kein Kissen zum Ausruhen, sondern der Auftrag, anzupacken. Der beste Tag, dieses Land zu renovieren, war vor 20 Jahren. Der zweitbeste ist heute.