Berlin. Als um 20.02 Uhr die ersten Notrufe eingingen, war der Lkw schon seit Stunden vermisst. Eine Rekonstruktion des Anschlags von Berlin.

Der schwerste Anschlag in Deutschland seit Jahrzehnten beginnt in einem trostlosen Gewerbegebiet im Berliner Stadtteil Moabit, drei Kilometer nördlich des Kanzleramts. Wenige Stunden, bevor ein Dutzend Menschen auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in den Tod gerissen werden, steht am Montagnachmittag ein schwarzer Scania-Sattelschlepper am Friedrich-Krause-Ufer vor einer Niederlassung von ThyssenKrupp.

Es ist der spätere Attentats-Lkw, er gehört einer polnischen Spedition: Der Laster hat 25 Tonnen Stahlträger aus Italien geladen, ein Teil der Fracht soll am Dienstagmorgen abgeliefert werden. Der Fahrer ist am Morgen angekommen, gegen 15 Uhr telefoniert er mit seiner Frau. Eine Stunde später merkt der Chef der Spedition in Stettin, dass etwas nicht in Ordnung ist: Sein Fahrer ist in Berlin plötzlich nicht mehr telefonisch zu erreichen. Er macht sich Sorgen, zu Recht: Nach dem Attentat wird der Mann, ein Cousin des Speditionsunternehmers, tot mit einem Kopfschuss auf dem blutverschmierten Beifahrersitz des Lkw entdeckt.

Lkw wurde unkontrolliert gesteuert

Die bisherigen Ermittlungen sprechen dafür, dass der Fahrer vom Attentäter oder einem Komplizen schon am Friedrich-Krause-Ufer erschossen wird, um den Lkw als rollende Waffe zu entführen. Wer immer die Tat ausführt, er hat offenbar einen Plan. Und Zeit: GPS-Daten zeigen nach Angaben des Spediteurs, dass der Lastwagen um 15.44 Uhr gestartet wird, weitere Male um 16.52 und 17.37. Aber der Lkw wird nicht bewegt. „Es ist, als hätte jemand geübt, ihn zu fahren“, sagt der Spediteur.

Zwei Stunden dauert es noch. Dann wird kurz nach halb acht Uhr der Lastwagen mit dem polnischen Kennzeichen GDA für die Todesfahrt gestartet. Vermutlich sitzt der Attentäter bereits am Steuer. Die GPS-Daten zeigen, dass der Fahrer den Lkw nicht wirklich beherrscht. Dennoch hat er rasch sein Ziel im Herzen West-Berlins erreicht. Auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, einem besonders beliebten Treffpunkt in der Adventszeit, herrscht Hochbetrieb.

Eine Schneise der Verwüstung

Der Attentäter fährt mit dem Lkw von Westen heran, über die Kantstraße am Bahnhof Zoo vorbei. Dann überfährt er – nach Zeugenaussagen mit ausgeschaltetem Licht – die Absperrpoller am Fußgängerweg vor dem Weihnachtsmarkt. Der Horror beginnt: Der Lkw durchbricht eine der Bretterbuden und verwandelt eine Gasse auf dem Markt in eine Schneise der Verwüstung. Diese Gasse ist als Rettungsweg für Feuerwehr und Notarzt gedacht, jetzt wird sie zur Falle: „Der Lkw passt hindurch“, schildert Polizeisprecher Thomas Neuendorf, „aber viele Menschen haben zwischen den Buden kaum eine Chance, dem Lkw auszuweichen.“

Protokoll des Lastwagen-Anschlags: Eine Rekonstruktion

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    Sie werden überrollt. Erst nach 70 bis 80 Metern kommt der Lkw an einer Weihnachtstanne zum Stehen, das Führerhaus ist beschädigt, die Windschutzscheibe zersplittert. Der Fahrer des Lastwagens springt aus der Fahrerkabine und flüchtet. Bei der Polizei gehen um 20.02 Uhr ersten Notrufe ein. Erste Einsatzkräfte vor Ort bestätigen den Anschlag, danach löst die Polizei Großalarm aus, rasch sind bis zu 550 Beamte im Einsatz. Im Führerhaus des Lastwagens findet die Polizei auf dem Beifahrersitz den erschossenen polnischen Lkw-Fahrer – und blutverschmierte Kleidung.

    130 Rettungskräfte am Breitscheidplatz

    Wenige Minuten später treffen erste Rettungswagen ein. Dutzende Menschen sind verletzt, unter dem Lastwagen liegen eingeklemmt und schwer verletzt mehrere Opfer. Nach und nach kommen rund 130 Rettungskräfte zum Breitscheidplatz. 50 Minuten nach dem Attentat meldet die Polizei zwei Tote und etwa 50 Verletzte, kurz nach 21 Uhr ist bereits von neun Toten die Rede. In der Nacht wird sich die Zahl auf elf Todesopfer erhöhen, die beim Anschlag sterben. Hinzu kommt der getötete polnische Fahrer.

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      45 Menschen sind verletzt, 30 von ihnen schwer. Während die Rettungsarbeiten laufen, scheint der Polizei ein Fahndungserfolg zu gelingen. Ein Zeuge hat den Beamten kurz nach dem Attentat berichtet, er habe den Fahrer in Richtung des Berliner Tiergartens fliehen sehen. Er rennt dem Mann in Sicherheitsabstand hinterher, hält permanent Telefonkontakt mit der Notrufzentrale.

      Polizei gibt Zurückhaltung auf

      So kann die Besatzung eines Streifenwagens den Verdächtigen nach rund zwei Kilometern gegen 21 Uhr an der Berliner Siegessäule festnehmen: Es handelt sich um den 23-jährigen Pakistaner Navid B., der Ende 2015 als Flüchtling nach Deutschland und im Februar 2016 nach Berlin gekommen ist. Nach der Festnahme gibt die Polizei ein Zeichen der Entwarnung: Es gebe keine Hinweise auf weitere gefährdende Situationen in der City, twittert die Polizei.

      Die Situation am Breitscheidplatz entspannt sich. Und nachdem sich die Sicherheitsbehörden bei der Einstufung der brutalen Tat zunächst bedeckt halten, wird gegen Mitternacht die Zurückhaltung in der Bewertung aufgegeben: Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagt, es spreche viel für einen Anschlag. Der für Terrorfälle zuständige Generalbundesanwalt leitet ein Strafverfahren ein, die Ermittlungen überträgt er dem Bundeskriminalamt.

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        Weihnachtsmarkt ist symbolträchtiges Ziel

        „Wir müssen von einem Terroranschlag ausgehen,“ erklären die Ermittler, so sagt es später am Dienstagvormittag auch die Kanzlerin. Ob es einen islamistischen Hintergrund gibt, lässt der Generalbundesanwalt offen. Aber der Weihnachtsmarkt ist ein symbolträchtiges Ziel. Der Tathergang ähnele dem Attentat von Nizza, bei dem im Juli mit einem Lastwagen 86 Menschen getötet wurden, erklären Sicherheitsexperten.

        Die islamistische Terrormiliz IS hat in ihrem Propagandamagazin gerade das Drehbuch für einen Anschlag wie in Berlin veröffentlicht, dort werden Lkw als „eine der einfachsten und sichersten“ Waffen für Anschläge gepriesen.

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          Keine belastbare Spur

          Es gibt viele Indizien, aber keine belastbare Spur. Die Ermittler sind sich im Lauf des Dienstags nicht mehr sicher, dass Navid B. der Attentäter ist, am Abend wird er freigelassen. Schon am Mittag hat die Polizei den unheimlichen Verdacht eingeräumt: Der wahre Attentäter ist möglicherweise noch auf der Flucht, mit einer Pistole bewaffnet. Man wisse nicht, ob es einen oder mehrere Täter gibt, räumt Generalbundesanwalt Peter Frank ein.

          Berlins Polizeipräsident Klaus Kandt sagt aber auch, es sei „nicht zwingend notwendig“, dass mehr als ein Mensch an dem Anschlag beteiligt war. Die Tat sei logistisch „nicht so anspruchsvoll“ gewesen. So bleiben viele Fragen offen. Der Tathergang ist bislang nur teilweise rekonstruiert. Auch deshalb warnt BKA-Chef Holger Münch, es gebe in Deutschland nun „ein erhebliches weiteres Anschlagsrisiko“.

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