London/Barcelona. Der Ex-Weltmeister setzt mit dem 2:1 über England ein Ausrufezeichen. WM-Bankdrücker Saúl überragt im Mittelfeld, Rodrigo trifft.

Wenn das Londoner Wembleystadion als Kultstätte des Fußballs gilt, dann ist es sicher auch kein schlechter Ort für eine „Wiedergeburt“. Mit dieser euphorischen Schlagzeile titelte die Zeitung „Sport“ gestern, und in dieser Linie bewertete ganz Spanien seinen ersten Sieg auf heiligem Rasen seit 1981. Man fühlt sich wie neu: nicht nur, weil nach der enttäuschenden WM wieder gewonnen wurde, 2:1 (2:1) in der Nations League durch Tore von Saúl und Rodrigo nach einem Rückstand durch Marcus Rashford. Sondern vor allem, weil anders gespielt wurde.

Dienstagabend gegen Kroatien

Spanien wird nie auf defensiven Konterfußball setzen, zum Glück, das machen ja schon genug andere. Aber weiter gehen wie bisher konnte es auch nicht. Über ein erst ruhmreiches, dann erfolgloses Jahrzehnt hatte sich das famose Tiki-Taka abgenutzt. „Wieder unberechenbar werden“, formuliert der neue Nationaltrainer Luis Enrique daher als oberstes Klassenziel. Und bevor es am Dienstag gegen WM-Finalist Kroatien zum nächsten Spitzenspiel kommt, lösten seine Schüler das Versprechen gleich ein.

In ihren besten Zeiten verhielt sich die „Selección“ immer analog zum FC Barcelona. Nun stand nach diversen Rücktritten (Iniesta, Piqué) und Ausbootungen (Jordi Alba) zwar mit Sergio Busquets bloß noch ein Barça-Profi in der Anfangsformation. Dafür erinnerte die Spielweise angesichts der kurzen Vorbereitungszeit schon fast frappierend an das Barcelona von Luis Enrique, der dort 2014 mit ähnlichem Reformauftrag angetreten war und auf Anhieb die Champions League gewann. Mit zeitlicher Verschiebung erreicht nun also auch das Nationalteam die „Evolution“ des Modells, von welcher der Trainer gern spricht. Spanien agierte entschlossen und dynamisch, ohne Angst vor dem offenen Schlagabtausch, aggressiver und weniger kontrollvernarrt als etwa während des fruchtlosen 1137-Pässe-Monologs beim WM-Aus gegen Russland. 53 Prozent Ballbesitz zählten die offizielle Statistik, wenig für spanische Verhältnisse. Dennoch wirkte Luis Enriques Auswahl bis auf Englands Schlussoffensive stets dominant.

Hispano-Brasilianer jubeln

Das schnellere, direktere und somit riskantere Angriffsspiel versinnbildlichte Saúl, bester Mann auf dem Platz. Der 23-Jährige von Atlético Madrid ist eher ein Mittelfeldspieler vom Typ Michael Ballack als der typisch spanische Kurzpassvirtuose. Mit seinen Vorstößen erzielte er nicht nur den 1:1-Ausgleich, sondern eröffnete immer wieder überraschende Passwege. Gleichzeitig machte er sich auch defensiv unentbehrlich. Ein box-to-box-Player, wie die Engländer sagen, denen trotz ihres WM-Aufschwungs mit dem Erreichen des Habfinals just im Mittelfeld diese Extraklasse fehlt. „Er hat eine ungeheure Physis, eine bestialische Mentalität, taktische Intelligenz und Torgefahr – er ist sehr komplett“, lobte Luis Enrique seine Schlüsselpersonalie. Bei der WM hatte Saúl zwar im Kader gestanden, jedoch keine Minute gespielt.

Neben ihm lieferte auch der ewige Wackelkandidat Thiago einen seiner besten Auftritte im Nationaldress. Womöglich befreit ohne den Schatten von Legenden wie Iniesta oder David Silva, mischte der Bayern-Profi gekonnt Kurz- und Steilpassspiel. Als Organisator beweist er mehr Übersicht und Altruismus als der ballverliebte Isco, der diese Rolle oft während der WM ausfüllte und um dessen Omnipräsenz danach eine Fachdebatte geführt wurde, in deren Zuge der Spieler noch vergangene Woche einen Journalisten beleidigte. Luis Enrique stellte Isco nun auf den linken Flügel, der Künstler von Real Madrid kam dort nur wenig vor, aber der Mannschaft schadete das nicht. Für Gefahr sorgte dafür ja etwa Valencias Rodrigo. Dass ihm Thiago per Freistoß zum Siegtor assistierte, war dabei besonders hübsch: Die beiden Hispano-Brasilianer sind seit gemeinsamen Schultagen in Rio de Janeiro so eng befreundet, dass sie sich untereinander als „Cousins“ bezeichnen.

Nach ihrer Koproduktion in der 32. Minute musste Spanien nur vereinzelte Schreckensmomente überstehen, in denen jedoch stets der bei der WM noch so fehlerhafte Torwart David De Gea zur Stelle war. „An ihm zu zweifeln ist lächerlich“, erklärte Luis Enrique, das Comeback des Keepers war eine weitere gute Nachricht an einem Abend, der zeigte, dass dieses Spanien zwar „spielerisch dem von 2010 oder 2012 vielleicht unterlegen“ sein mag, wie Luis Enrique schon vor dem Match vermutete. Das dem zuvor 14-mal am Stück zuhause siegreichen England aber trotzdem die erste Heimniederlage in einem Pflichtspiel seit elf Jahren beibrachte. Und das jetzt genau deshalb auf eine Wiederkehr der alten Erfolge hofft, weil es anders ist.