Moskau. Andrés Iniesta ist aus der spanischen Nationalmannschaft zurückgetreten. Nach dem WM-Aus im Achtelfinale hatte er Tränen in den Augen.

Als „Kalinka“ gespielt wurde und die russischen Sieger eine gigantische Landesfahne über den Platz trugen, endete eine große Länderspielkarriere in Trauer und Zorn. Andrés Iniesta wich der Fahne aus, dann schlich er vom Platz, ein letztes Winken, das in seiner Ruckhaftigkeit eher ein Abwinken war. Er hatte Tränen in den Augen. Der Siegtorschütze von Spaniens einzigem WM-Titel, der wohl beste Fußballer der Landesgeschichte ging nicht nur geschlagen. Er ging demontiert.

Wenn im Moskauer Luschniki nach drei fetten Turnieren mit den Titeln zwischen 2008 und 2012 nun ein Zyklus von drei mageren Turnieren komplettiert wurde, blieb nicht nur die Oberflächlichkeit von 1137 Pässen zurück oder die Apathie von Torwart David De Gea beim Elfmeterschießen. Sondern eine Symbolik der Selbstzerstörung. Schon als am Nachmittag die Mannschaftsaufstellungen bekanntgegeben wurde, war es unmöglich, nicht an einen ebenso wolkenverhangenen, schwülen Tag vor vier Jahren im Maracanã von Rio de Janeiro zurückzudenken. Damals spielte der amtierende Meister aller Klassen gegen Chile um sein Überleben im Turnier. Und Trainer Vicente Del Bosque setzte Xavi Hernández auf die Bank, das Hirn der goldenen Zeiten.

Ohne Iniesta wurde es nur noch schlimmer

Auch Fernando Hierro, Spaniens Interimstrainer, ein Zögling Del Bosques, beugte sich nun dem Druck eines Teils der Öffentlichkeit, die in Iniesta den Ursprung von Spaniens bescheidenen Auftritten in der Gruppenphase gesehen hatte. Er verzichtete zunächst auf die Seele der goldenen Zeiten. Doch so wie die Verbannung von Xavi 2014 oder die von Kapitän Iker Casillas bei der EM 2016 kein Glück brachte, wurde es auch ohne Iniesta nur noch schlimmer. Nachdem er später doch noch auf den Platz kam, spielte Spanien immerhin besser. Der erste wirklich gefährliche Torschuss nach dem Eigentor zur Führung und dem Elfmeter zum Ausgleich kam nicht umsonst von ihm.

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„Es ist eine Realität, dass heute mein letztes Spiel für die Nationalelf war“, waren später Iniestas erste Worte, tief die Augenhöhlen, noch bleicher als sonst der Teint. „Eine wundervolle Zeit ist vorbei, manchmal ist das Ende nicht, wie man es erträumt, sondern wie es die Umstände markieren“. Während 16 Profijahren hat dieser feine Fußballer nie nachgekartet, nie ein schlechtes Wort verloren. Er blieb sich bis zuletzt treu. „Der Trainer trifft die Entscheidungen, jenseits dessen, ob man sie selbst teilt“. Das WM-Aus? „Die Hauptschuldigen im Fußball sind immer die Spieler.“

Chaotisches Präludium im WM-Quartier von Krasnodar

Ganz so einfach wollte es die heimische Kritik der spanischen Russland-Expedition allerdings nicht machen – zumal sich ein Interpretationsmuster ja geradezu aufdrängte: das chaotische Präludium im WM-Quartier von Krasnodar, als Trainer Julen Lopetegui den Verband mit einer Unterschrift bei Real Madrid überrumpelte und am nächsten Tag mit sofortiger Wirkung gefeuert wurde. Ad-Hoc-Nachfolger Hierro wurde von Verbandspräsident Luis Rubiales nun versprochen, dass „eine so tadellose Person wie Fernando (Hierro) immer einen Platz im Verband finden wird“. Ob das wie bis zur Lopetegui-Operette als Sportdirektor sein wird, ließ er offen. Für den Trainerjob dürfte die WM als Empfehlung kaum ausgereicht haben. Zwar scharte der Ex-Kapitän die Mannschaft in der schwierigen Situation mit seinem Charisma sofort hinter sich, drückte bei Aufstellungen und Coaching aber letztlich nicht die richtigen Knöpfe.

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    Die Debatte, die nun mit Macht geführt wird, geht freilich tiefer: Ist das Tiki-Taka tot? Oder wird es nur nicht mehr richtig praktiziert? Dass man beim Ballgeschiebe gegen Russland einer Perversion des Stils beiwohnte, darüber herrschte immerhin Einigkeit, nachdem ein Verteidiger, Sergio Ramos, mit 141 Pässen allein in der regulären Spielzeit verbucht wurde (188 am Ende der Verlängerung); WM-Rekord in 52 Jahren Erhebung dieser Statistiken. Von den über tausend Abspielen gingen nur 278 nach vorn.

    Spanien ohne Stabilität

    Allerdings war das nicht das einzige Problem. Weltmeister 2010 wurde Spanien nämlich nicht, weil es so viele Torchancen herausspielte oder gar Tore schoss: nur acht in sieben Partien (2018: sieben in vier Spielen). Weltmeister wurde es, indem es über Ballbesitz das Spiel kontrollierte und praktisch keine Torchancen oder gar Gegentore zuließ: nur zwei in sieben Partien (2018: sechs). Was in Russland fehlte, waren Stabilität und Konzentration, wie viele individuelle Fehler zeigten.

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      Nun geht der Verursacher des Elfmeters zum russischen Ausgleich, Gerard Piqué, 31, mit Iniesta, das hatte er schon vor Jahren angekündigt. Offen ist die Zukunft von David Silva, 32. Neben ihm und Iniesta gibt es nur noch einen, der den kompletten Reigen ab 2008 miterlebte, und der kam, wie es seine Gewohnheit ist, auch nach dem Unheil von Moskau als letzter aus der Kabine. Ramos, 32, hatte geweint, er sah mitgenommen aus, regelrecht eingefallen für seine Verhältnisse – und er erklärte, dass es so auf keinen Fall zu Ende gehen dürfe. „Ich sehe mich gezwungen, in Katar mit weißem Bart zu spielen“, sagte er im Ausblick auf 2022. Da konnte er sogar wieder lachen. Aber angesichts des schwierigen Endes spanischer Legenden klang es eher wie eine Drohung.