Moskau/Frankfurt. Die deutsche Nationalmannschaft kehrt mit schwerem Gepäck von der WM aus Russland zurück. DFB-Spitze verlangt „knallharte Analyse“.

Das Klima veränderte sich schnell. Kalte Luft strömte unaufhörlich aus den Schlitzen von Flug LH343, als sich die Maschine noch auf russischem Boden befand. Flughafen Wnukowo, Gate 29, unplanmäßige Wartezeit. Pünktlich um 11 Uhr sollte der Flieger in die Heimat starten, fast fluchtartig wirkte die Abreise der deutschen Delegation nach dem törichten Ausscheiden bei der Weltmeisterschaft in Russland, die jetzt einfach ohne den Titelverteidiger weitergeht.

Der Pilot meldete sich um kurz nach elf, dass es noch eine Viertelstunde dauern würde. Eine Fehleinschätzung. Das Gepäck sei das Problem. Dann stellte sich die russische Luftfahrtbehörde quer.

„Da sind wir machtlos“, sagte der Mann im Cockpit. 82 Minuten dauerte es länger bis zum Start. Die Toiletten im vorderen Bereich? Den ganzen Flug lang defekt.

Optimistische Schätzungen, Ärgernisse, Mängel – es war, als ginge das Turnier doch noch weiter für die deutsche Mannschaft.

DFB will WM-Pleite analysieren

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    Will Löw überhaupt bleiben?

    Die kühle Atmosphäre störte den Bundestrainer dann doch. Um sich einen wärmenden Pullover zu holen, erhob sich Joachim Löw von seinem Sitzplatz. Zweite Reihe. Der 58-Jährige hatte einen Gangplatz zugewiesen bekommen.

    Von da kommt man gut und schnell weg. Will er das? Macht er das? Ein Misserfolg außerhalb jeder Dimension war diese WM. Tabellenletzter, erstmaliges Vorrunden-Aus. Bleibt Löw Bundestrainer? Oder zieht er die Konsequenzen?

    Die Entscheidung fällt Ende der kommenden Woche – und Löw trifft sie scheinbar allein. „Es braucht tiefgreifende Maßnahmen, es braucht klare Veränderungen. Das müssen wir jetzt besprechen, wie wir das tun. Jetzt brauchen wir Zeit und ein paar Gespräche, dann werden wir klare Antworten geben“, stellte Löw in Aussicht. Er braucht emotionalen Abstand, um einen klareren Blick auf die Dinge zu erlangen.

    So war es nach Erfolgen auch. Aber der Erfolg hat sich verflüchtigt. Löw ist aktuell nicht mehr der Weltmeistertrainer, sondern der Weltmeisterabsturztrainer. Einer repräsentativen Umfrage zufolge – in Auftrag gegeben von T-Online – wünschen sich 55 Prozent, dass Löw zurücktreten möge; nur 33 Prozent wollen ihn weiter im Amt sehen.

    Die Ankunft der deutschen Mannschaft

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      Nach dem 0:2 gegen Südkorea war die Mannschaft gegen 1.30 Uhr im Hotel in Watutinki angekommen. Es gab noch einen mitternächtlichen Snack und etwas zu trinken im Gemeinschaftsraum. Dem Raum, in dem die Spieler auch immer die anderen Spiele geschaut hatten. Dieses Mal saßen sie da wie Staffage einer traurigen Kulisse: auf Sofas, an Tischen, jeder mit sich selbst beschäftigt, zumeist schweigend, nicht fähig, viele Worte zu wechseln. Um sie herum wurde schon bald abgebaut.

      Wenige Stunden später am Flughafen starrten die meisten noch immer vor sich hin. Kopfhörer beschützten Mats Hummels und viele andere vor der Welt da draußen. Jerome Boateng verbarg seine Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille.

      Toni Kroos brachte Frau und Kinder mit an Bord, der frisch gebackene Papa Sebastian Rudy ebenfalls. Marco Reus und Matthias Ginter hatten ihre Freundinnen an der Seite. Dann und wann gestattete man sich wieder ein Lächeln.

      Die sportliche Führung mühte sich schon in der Nacht zu einem ersten Austausch. Ergebnis: Erst einmal Zeit gewinnen. Täglich wird Löw in den kommenden Tagen mit Oliver Bierhoff in Kontakt stehen.

      Bierhoff hofft auf ein Umdenken

      „Knallharte Analysen“ forderte der DFB-Direktor ein. Nicht sofort. Aber zeitnah. „Bei uns allen war es in der Nacht und auch heute Morgen so, dass wir uns gefragt haben, wie es weitergeht, was wir machen wollen, wo wir ansetzen wollen?“ Momente der Enttäuschung, Anflüge von Resignation. „Aber die Energie kommt schnell wieder. Dann heißt es: Ärmel hochkrempeln, Fehler abstellen, die Mannschaft wieder auf Kurs bringen.“ Ende der kommenden Woche soll der Verbandsspitze eine erste Analyse über Fehler und Probleme vorliegen.

      „Dann rechne ich auch damit, dass sich der Bundestrainer zu seiner Zukunft äußern wird“, sagt Reinhard Grindel, Präsident des Deutschen Fußball-Bundes. Ende der kommenden Woche: Das klingt nach einem Ultimatum.

      Noch am Abend hatte er Löw zu einem Gespräch getroffen. Grindel warnt, aus dem Affekt heraus zu handeln: „Es kommt jetzt darauf an, dass wir nicht in Hektik oder Aktionismus verfallen.“ Aber er braucht Klarheit in der Trainerfrage.

      Die Frage ist nämlich, wer den Job eigentlich machen könnte, wenn Löw tatsächlich zurücktritt. Löw mag kein perfekter Trainer sein, nicht nur gegen Mexiko (0:1) beging er handwerkliche Fehler. Aber bisher galt er mit seiner Stärke in Menschenführung als der perfekte Bundestrainer. Seinen Vertrag hat der Verband gerade erst bis 2022 verlängern lassen. Alternativen sind rar.

      Löw in Freiburg oder Berlin

      Julian Nagelsmann sieht seine Zukunft bei RB Leipzig, Jürgen Klopp berauscht sich noch am Adrenalin des FC Liverpool. Marcus Sorg, Löws bisheriger Co-Trainer, wäre ein Kandidat, aber er ist in Russland zum Teil des Desasters geworden und daher aktuell schwer vermittelbar. WM-Rekordschütze Miroslav Klose gehörte als Stürmer-Trainer zwar ebenfalls zum Trainerstab, bringt aber eine beachtliche Vita und Persönlichkeit mit.

      Löw weiß, dass die Spekulationen hübsch sprießen. Er wird sich zurückziehen und nachdenken. Nach Freiburg vielleicht. Oder Berlin. Ein Urlaub sei vorerst nicht vorgesehen. Eine Entscheidung wird verlangt.

      Schließlich finden im September die ersten Länderspiele statt.