Moskau/Kaliningrad. Zeit des Liebesentzugs scheint vorbei. Die englischen Fans feiern wieder ihre Nationalmannschaft. Auch am Donnerstag?

Hupkonzerte in der Londoner Innenstadt. Biertrunkene Freudenfeiern am Strand in Brighton. Fans, die öffentliche Busse zu Surfbrettern umfunktionieren. Seit der EM 2004 hat die sportlich (und mittlerweile auch politisch) gebeutelte Nation derartige Glücksgefühle nicht erlebt.

Ganz England schickt vor dem dritten Gruppenspiel am Donnerstag gegen Belgien (20 Uhr/ARD) Liebesgrüße nach Russland; an ein Team, von dem man vieles erwartet hatte, aber keine Wunderdinge. Schon gar nicht hatte man auf der Insel damit gerechnet, dass die unerfahrene, nicht gerade vor Wunderkickern berstende Mannschaft von Gareth Southgate Fans und Spieler diesen Sommer in patriotischer Ekstase vereinen würde.

Sechs Tore gegen Panama bei Englands höchstem Sieg der WM-Geschichte (6:1) waren der Stimmung selbstverständlich förderlich. Aber das erklärt noch nicht ganz, warum die Popularität der Truppe Werte erreicht hat, die zuletzt Terry Venables’ Euro 96-Elf genoss. Paul Gascoigne und Co. brachten damals den Fußball nach Hause („football’s coming home“), obwohl sie nicht gewannen. Ähnliches wiederholt sich momentan.

„Egal was noch passiert: Southgate hat Englands Ruf und spielerische Substanz erneuert und verbessert”, begeisterte sich die Sun.

Popstars lieferten nicht

Neben dem variablen, durchdachten Angriffsspiel hat auch das angenehme Auftreten viele neue Freunde in der Heimat gefunden. Southgate bekam als Nationalspieler in den Neunzigern und Nuller-Jahren den Hype um die vermeintlich goldene Generation der Beckhams, Rooneys und Lampards hautnah mit. Englands Fußballer inszenierten sich als Popstars, konnten auf dem Rasen jedoch nicht liefern.

Die enttäuschten Erwartungen, die in der verpassten EM 2008 gipfelten, führten unter medialer Mithilfe zu einem kollektiven Liebesentzug. Das folgende Jahrzehnt saß den Nationalspielern die Angst im Nacken, nach Niederlagen in den Pubs und Boulevardblättern als überbezahlte Weicheier und Landesverräter verschrien zu werden.

Southgate warf die paranoide Wagenburg-Mentalität des Verbandes über Bord. Der 47-Jährige wies seine Schützlinge an, sich in Interviews zu öffnen. Reporter und Publikum sollten die Menschen unter den Trikots kennenlernen. Vor allem sollte sich der Umgang entspannen. Im Mannschaftslager in Repino fordern Spieler die Journalisten vor jeder Pressekonferenz zu einem Darts-Spiel heraus. „Es geht hier um Fußball, keinen Staatsakt”, spricht es aus diesen Bildern.

Southgate setzt auf Talente

Southgate ist nicht verborgen geblieben, dass sein England „zur Abwechslung” (Observer) wirklich gemocht wird. „Für mich ist eines der wichtigsten Dinge, das es zwischen uns und den Fans eine Verbindung gibt”, sagte er dem Fernsehender ITV. „Wir haben die Chance, Dinge zu bewegen, die größer als wir selbst sind. Als Mannschaft mit vielen verschiedenen Herkünften und vielen jungen Spielern repräsentieren wir das moderne England. Ich hoffe, dass die Leute sich in uns wiedererkennen.”

Die Identifikation fällt leichter, weil der Kader mit Ausnahme von Torjäger Harry Kane (Tottenham Hotspur) keine erklärten Weltklassespieler vereint, sondern aufstrebende Talente, die in ihren Premier-League-Vereinen ein wenig im Schatten der internationalen Granden stehen. Bis auf Abwehrveteran Gary Cahill (32) hat niemand die Champions League gewonnen; die Rivalitäten sind nicht annähernd so ausgeprägt wie vor zehn Jahren, als Frank Lampard (damals Chelsea) und Rio Ferdinand (Man United) vor lauter Ehrgeiz den Dialog einstellten.

Southgate weiß natürlich, dass das Hoch eng mit sportlichem Erfolg verbunden ist. Doch falls die Lustreise zu Ende gehen sollte, hat das Team viel erreicht. England steht wieder hinter England.