Berlin/Moskau. Russlands Trainer Tschertschessow über fehlende Stars, sein fußballerisches Leitbild – und sein Verhältnis zu Bundestrainer Löw.

Bevor das Gespräch beginnen kann, stellt Stanislaw Tschertschessow eine Regel auf: „Keine Fragen zur Politik“, sagt der russische Nationaltrainer. Der 54-Jährige steht unter Druck. Er weiß, dass er sich bei dem Thema auf schwierigem Terrain bewegt, und schwierig genug ist seine Aufgabe auch so. Der ehemalige Bundesliga-Torwart von Dynamo Dresden (1993-95) soll mit der „Sbornaja“ den hohen Erwartungen im WM-Gastgeberland gerecht werden – und das mit einer Mannschaft, die weit entfernt ist von der Herrlichkeit vergangener Tage. Tschertschessow spricht nahezu perfekt deutsch. Bis 2002 spielte er für den FC Tirol Innsbruck. Sein Trainer damals hieß: Joachim Löw. Vor dem WM-Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien (17 Uhr/ARD) beginnt ein Gespräch über fehlende Stars, das Leitbild Bayern München und warum er Löw noch heute siezt. Als es aber um die Hooligan-Problematik in Russland gehen soll, sagt Tschertschessow: „Stopp, stopp! Das ist Politik.“

Herr Tschertschessow, wann hatten Sie zuletzt mit Joachim Löw Kontakt?

Stanislaw Tschertschessow: Wir wurden neulich bei der Kader-Bekanntgabe der deutschen Mannschaft für das deutsche Fernsehen zusammengeschaltet. Länger gesprochen aber haben wir zuletzt bei der Auslosung für die Nation League im Januar in der Schweiz. Dort haben wir ausgemacht, dass wir Mitte November gegeneinander spielen werden.

Wie ist das für Sie, wenn Sie Löw treffen. Sie waren sein Spieler in Innsbruck, heute sind Sie Kollegen...

Tschertschessow: Ich hatte immer ziemlich viel Respekt vor Herrn Löw. Zwar sind wir heute Kollegen, aber wissen Sie: Wenn jemand einmal mein Trainer war, dann bleibt er das für mich irgendwie immer.

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Sie nennen Ihn noch heute Herrn Löw?

Tschertschessow: Ja. Ich sieze ihn noch immer. Das gehört sich so bei uns in Russland. Vielleicht könnte ich ihn heute auch duzen, aber das habe ich bisher noch nicht gewagt. Er duzt mich weiterhin wie früher. Es bleibt irgendwie ein Trainer-Spieler-Verhältnis.

2002 sind Sie mit Löw als Trainer in Innsbruck Österreichischer Meister geworden...

Tschertschessow: (unterbricht)...richtig. Danach bin ich nach Japan zur WM geflogen, und dort habe ich erfahren, dass der Klub bankrott ist. Schon vorher haben wir acht Monate lang kein Geld bekommen. Und trotzdem wurden wir Meister. Das hatte vor allem mit Herrn Löw zu tun. Er hat es irgendwie hingekriegt, dass wir motiviert blieben. 2010, als ich schon Trainer in Sotschi war, hatte ich die gleiche Situation. Damals war der Klub auch am Ende. Es gab keine Gehälter mehr. Und ich habe mich daran erinnert, wie Herr Löw es bei uns in Innsbruck hinbekommen hat. Das hat mir geholfen. Man kann also sagen: Herr Löw hat mich geprägt.

Was war Löw damals für ein Trainer in Innsbruck?

Tschertschessow: Er war fachlich und sozial damals schon herausragend. Er konnte Menschen unheimlich gut führen.

Bei der WM jetzt werden Sie vermutlich nicht auf ihn treffen...

Tschertschessow: Durch die Gruppenkonstellation können wir mit Russland frühestens im Halbfinale auf Deutschland treffen. Sollte es so kommen, wäre ich der glücklichste Mann der Welt. Das wäre ein riesiger Erfolg für uns.

Realistisch klingt das aber nicht. Was ist ein realistisches Ziel für Russland bei der WM?

Tschertschessow: Das kann ich noch nicht sagen. Wir hatten zuletzt vier Kreuzbandrisse in unserem Team. Das macht es nicht einfacher. Natürlich gehören wir auf dem Papier nicht zu den Favoriten. Das ist klar. Aber das heißt für uns nicht, dass wir chancenlos sind. Wir haben unsere Möglichkeiten.

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    Worin sehen Sie die Stärke Ihrer Mannschaft?

    Tschertschessow: Seit ich nach der EM 2016 übernommen habe, haben wir das Team verjüngt. Diese jungen Spieler werden sich bei der WM zeigen. Aber unsere Stärke kann nur der Teamgeist sein. Wir haben keinen Starspieler, der in einer der Top-Fünf-Ligen im Ausland spielt wie früher.

    Wo Russland steht, kann man schwer absehen. Sie haben in einem Test gegen Spanien 3:3 gespielt, gegen Belgien auch. Aber Sie haben auch gerade 0:1 gegen Österreich verloren und seit Oktober 2017 nicht mehr gewonnen.

    Tschertschessow: Das beunruhigt mich nicht. Eigentlich waren wir gegen gute Gegner immer auf Augenhöhe. Gegen Argentinien Ende 2017 haben wir kurz vor Schluss nur durch ein Abseitstor 0:1 verloren. Wir müssen für unsere Entwicklung noch einen letzten Schritt gehen. Aber ob das bei der WM klappt, kann keiner voraussagen.

    Anders als bei der EM 2008, als Russland mit Andrej Arschawin begeisterte, spielen fast alle Ihrer Spieler heute in der heimischen Liga. Ist das ein Nachteil?

    Tschertschessow: Nur ein Spieler spielt im Ausland: Denis Tscheryschew in Spanien bei Villareal. Zu meiner aktiven Zeit verdienten die Nationalspieler zu 90 Prozent ihr Geld im Ausland: ich in Dresden, andere bei Chelsea, Inter Mailand, Manchester United, alles Topklubs. Aber trotzdem haben wir damals nicht viel erreicht. Es muss also heute kein Nachteil sein, dass meine Spieler fast ausschließlich in Russland spielen. Obwohl es natürlich gut wäre, wenn mehr von ihnen bei Topklubs wären. Aber eine WM ist ja auch eine Bühne. Mal sehen, was nach der WM passiert.

    Mit Konstantin Rausch und Roman Neustädter hatten Sie zwei Spieler im vorläufigen WM-Kader, die in Deutschland aufgewachsen sind und sich erst spät für die russische Nationalelf entschieden. Sie haben sie aber aus dem WM-Kader gestrichen. Warum?

    Tschertschessow: Ich habe beiden meine Entscheidung persönlich erklärt. Das muss genügen. Rausch hatte einige Tage lang Rückenprobleme, eine schwerere Muskelverletzung. Das konnten wir nicht riskieren.

    So haben fast alle Ihrer Spieler nur Erfahrungen in der russischen Liga gemacht. Wie stark sehen Sie diese?

    Tschertschessow: Stark ist nicht das richtige Wort. Die russische Liga ist sehr speziell, sehr schwierig. Da geht es viel um Taktik und Kondition. Das einzige, was fehlt, ist die Höchstgeschwindigkeit wie in den Topligen in Europa.

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      Wenn man der WM-Ausrichter ist, kann es in zwei Richtungen gehen: Die Euphorie im Land kann die Mannschaft beflügeln wie 2006 in Deutschland. Sie kann eine Mannschaft aber auch enorm unter Druck setzen. Wie wird das in Russland sein?

      Tschertschessow: Mit dem Druck werden wir schon zurechtkommen. Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Das ist nun einmal unser Job.

      Wie soll ihr Team denn spielen? Wie sieht der typische Tschertschessow-Fußball aus?

      Tschertschessow: Für mich gibt es ein Ideal: Der Fußball, den die Triple-Mannschaft von Jupp Heynckes 2013 bei Bayern München gespielt hat, das ist mein Fußball. Ökonomisch, gerade, erfolgreich.

      Ihre Gruppe A gilt nicht als sonderlich stark. Wie schätzen Sie Ihren Auftaktgegner Saudi-Arabien ein und wie Ägypten und Uruguay?

      Tschertschessow: Ich finde, das ist eine schwere Gruppe. Der Start gegen Saudi-Arabien ist immer kompliziert. Bei den Ägyptern spielen sechs Profis in der englischen Liga. Und sie haben Mo Salah von Liverpool, der ein Star dieser WM werden könnte. Tja und Uruguay ist eigentlich immer stark. Von einfach kann also keine Rede sein. Das wird schwer für uns, aber wir können es schaffen.

      Die WM im eigenen Land ist ihr Auftrag. Aber haben Sie sich auch schon Gedanken gemacht, was danach kommen soll?

      Tschertschessow: Erst einmal müssen wir eine gute WM spielen. Das ist die Grundlage. Und ich habe jetzt keine Zeit, mir über etwas anderes Gedanken zu machen. Aber grundsätzlich kann ich mir dann gut vorstellen, ins Ausland zu gehen. In die Bundesliga sowieso. Da habe ich selbst gespielt und ich spreche Deutsch. In Europa erfolgreich war ich auch schon. Mit Warschau wurde ich 2016 Meister und Pokalsieger. Wir werden also mal sehen.