Sotschi/Moskau. Der WM-Gastgeber verliert nach Elfmeterschießen, gewinnt aber die Herzen der Fans. Ein russisches Sommermärchen geht zu Ende.

Rund sieben Stunden, nachdem Russlands Trainer Stanislaw Tschertschessow trotzig gesagt hatte, dass das Leben schon irgendwie weiter gehen würde, ging die Welt unter. Der Himmel über Russland weinte. Oder besser: Er heulte Rotz und Wasser. Fast hätte man den Eindruck bekommen können, dass sogar Petrus zunächst eine kurze Nacht über das Drama von Sotschi schlafen musste, ehe auch er seinen Gefühlen freien Lauf lassen musste. Es regnete nicht nur am Morgen nach Russlands bitterer 5:6-Niederlage nach Elfmeterschießen gegen Kroatien im Viertelfinale. Es schüttete, als ob es keinen Morgen mehr geben würde.

Russlands "Grenze des Glücks ist erreicht"

„Die Grenze des Glücks ist erreicht“, ließ die „Gazeta“ ihre Leser in großen Buchstaben am Regenmorgen danach wissen, „Sowjetski Sport“ schrieb kurz und knapp: „Danke, Jungs! Ihr habt gegen Kroatien verloren, aber wie die Löwen gekämpft.“ Und der traditionell eher kritische „Sport-Express“ berichtete sogar vom „Champion unserer Herzen. Vor einem Monat haben die Fans über die Mannschaft gelacht, jetzt lieben sie das Team von Herzen.“

Gelacht hat am späten Sonnabend tatsächlich keiner der 44.287 Zuschauer mehr im Olympiastadion Fisht. In keiner hochklassigen, aber einer unglaublich emotionalen Partie hatte es nach Toren durch Denis Cheryshev (31.) und Andrej Kramaric (39.) zum Ende der regulären Spielzeit zunächst 1:1 gestanden. In der dramatischen Verlängerung waren es dann die Kroaten, die durch Domagoj Vida (101.) in Führung gingen, ehe der gebürtige Brasilianer Mario Fernandes (114.) doch noch den frenetisch umjubelten Ausgleich köpfte. Was dann folgte, kann man kurz und knapp oder etwas ausführlicher umreißen. Die Kurzform: Drama pur.

Die etwas ausführlichere Variante: Weil Fyodor Smolov und Verlängerungsheld Fernandes im Elfmeterschießen auf der einen Seite verschossen und auf der anderen Seite lediglich Mateo Kovacic an Torhüter Igor Akinfeev scheiterte, war es schließlich der frühere Schalker Ivan Rakitic, der mit seinem platzierten Schuss mitten ins russische Herz dem Spektakel ein Ende bereitete. Und es dauerte auch nur wenige Sekunden, ehe sich die geschockten Zuschauer von ihren Plätzen erhoben und die Sbornaja mit einem donnernden Applaus gebührend aus dem Turnier verabschiedeten.

"Sie sind Helden"

„Unsere Mannschaft hat in einem ehrlichen und schönen Spiel verloren“, ließ Kremlsprecher Dmitir Peskow unmittelbar nach dem Schlusspunkt über die russische Agentur Interfax verbreiten. Man könne aber trotz der knappen Niederlage stolz auf die Fußballer sein. „Sie sind Helden. Sie sind auf dem Feld gestorben“, sagte der Vertraute des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit großem Pathos.

Putin selbst war nicht im Stadion, rief aber noch in der Nacht zum Sonntag Trainer Tschertschessow an. „Ich habe ihm gesagt, dass wir sehr enttäuscht sind“, sagte der frühere Torhüter von Dynamo Dresden, der dem Viertelfinalaus aber auch etwas Positives abgewinnen konnte. „Ich bereue nichts. Ganz Russland hat sich in den vergangenen Wochen in uns verliebt.“

Und wie. Tatsächlich schafften es Tschertschessow und seine Mannschaft, den extremen Pessimismus im Land Spiel für Spiel in einen nie dagewesenen Optimismus zu verwandeln. 5:0 hatte die Sbornaja das Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien gewonnen und mit dem 3:1 gegen Ägypten im zweiten Vorrundenspiel sogar noch einmal nachgelegt. Die 0:3-Niederlage im bedeutungslosen dritten Gruppenspiel gegen Uruguay war schnell vergessen. Vor allem auch deswegen, weil der auf dem Papier größte Außenseiter des Turniers im Achtelfinale gegen Top-Favorit Spanien über sich hinaus wuchs und durch ein 4:3 nach Elfmeterschießen erstmals überhaupt in ein WM-Viertelfinale einzog.

"Entscheidend, wie man sich aus einem Turnier verabschiedet"

Der überraschende Erfolg des WM-Gastgebers tat der Nation, die spätestens nach dem Endspiel am 15. Juli wieder ganz andere Sorgen als Fußball haben wird, spürbar gut. Der russische Fußball werde nie wieder „sein enttäuschendes altes Selbst“ zeigen, sagte Premierminister Dimitri Medwedew, der beim Drama gegen Kroatien auf der Tribüne neben Fifa-Präsident Gianni Infantino Platz genommen hatte. „Ich hatte noch nie solche Emotionen bei einem Fußballspiel“, schwärmte er.

Nun darf man freilich gespannt sein, inwiefern die Politik den inszenierten WM-Zauber, der durch die Erfolge der Sbornaja zusätzlich an Bedeutung gewinnen konnte, nutzen kann und will. Durch die Feierlichkeiten der Weltmeisterschaft ging fast unter, dass Putins Regierung heimlich, still und leise die Benzinpreise, das Rentenalter und die Mehrwertsteuer um zwei Prozent erneut anhob.

Doch all das spielte in der Nacht zum Sonntag natürlich keine Rolle, als Tschertschessow sogar mit Applaus der heimischen Journalisten nach seiner letzten WM-Pressekonferenz verabschiedet wurde. „Es ist nicht nur entscheidend, wie man bei einem Turnier abschneidet“, sagte der überzeugte Schnauzbartträger. „Es ist vor allem auch entscheidend, wie man sich aus einem Turnier verabschiedet.“

Ein wirkliches Happy End war für Russlands Sommermärchen zwar nicht vorgesehen. Aber – und da waren sich alle einig – Tschertschessow und Co hatten weit mehr erreicht, als das jemals jemand für möglich gehalten hatte. Ein Halbfinaleinzug wäre vielleicht des Guten sogar zu viel gewesen. Und so konnte es am Tag danach so viel regnen wie es wollte.

Do svidaniya, Rossija!