Moskau/München. Der frühere Bundesligastar plädiert im Exklusiv-Interview für einen Löw-Rücktritt und traut der Seleção bei der WM den großen Wurf zu.

Ein Pendler war Zé Roberto eigentlich schon immer. Zwölf Jahre hat der Brasilianer in Deutschland bei Bayer Leverkusen, Bayern München und dem HSV gespielt – und sich so sehr in Land und Leute verliebt, dass er später unbedingt wieder in seiner Wahl-Heimat leben will. Derzeit ist Zé Roberto tatsächlich wieder in Deutschland – und pendelt schon wieder. Zwischen München, wo er für den WM-Monat mit seiner Familie untergekommen ist, und Baden-Baden. Dort muss der 43-Jährige an Spieltagen der brasilianischen Nationalmannschaft als Experte für das ZDF die Seleção analysieren. Im Gespräch mit der Funke-Mediengruppe erlaubte sich „o grande Zé“, der große Zé, aber auch eine Meinung zum Ausscheiden der Deutschen.

Nach WM-Aus - Das Ende der Ronaldo-Ära?

weitere Videos

    Senhor Zé Roberto, Sie haben einen deutschen Pass und Sie wollen mittelfristig wieder in München oder in Hamburg leben. Leiden Sie gerade genauso wie der Rest von Deutschland?

    Zé Roberto: Und wie. Ich bin total schockiert. Meine drei Kinder genauso. Die sind alle in Deutschland geboren und sind große Fans der Nationalmannschaft. Und weder sie, ich noch sonst jemand hätte für möglich gehalten, dass Deutschland in der Vorrunde rausfliegt. Vor der WM war sich doch die ganze Welt einig, dass Deutschland ein Mitfavorit für den Titelgewinn ist.

    Haben Sie schon eine Erklärung, was dem gefallenen Mitfavoriten wiederfahren ist?

    Zé Roberto: Schwierig. Es gab natürlich einige Indikatoren für das Desaster. In der Vorbereitung waren die Spiele ja auch schon schlecht. Und irgendwie hat es Bundestrainer Joachim Löw nicht geschafft, bei dieser WM eine Stammformation zu finden. Vor dem entscheidenden Spiel gegen Südkorea hat er gleich fünf Wechsel vorgenommen. Das ist einfach zu viel.

    Soll Löw zurücktreten?

    Zé Roberto: Das kann nur er selbst entscheiden. Er muss wissen, wie sehr er für einen Neuanfang motiviert ist. Aber vielleicht würde der Mannschaft eine Veränderung auf dieser Position guttun. Letztendlich wird sich das Team ja nicht großartig verändern. Ein paar ältere Spieler werden zurücktreten, dafür kommen ein paar junge Spieler, die im vergangenen Jahr U21-Europameister wurden, neu dazu. Die Mannschaft hat also ein gesundes Fundament. Aber vielleicht braucht Deutschland einen neuen Architekten.

    In Deutschland wird gerade alles auf den Prüfstand gestellt. Was wäre in Brasilien los, wenn die Seleção als Gruppenletzter ausgeschieden wäre?

    Zé Roberto: Ich finde, dass in Deutschland das Fiasko noch sehr sachlich aufgearbeitet wird. In Brasilien wäre die Diskussion sehr viel emotionaler geführt worden. Bei uns wird immer nach einem Schuldigen gesucht. 1990 war Carlos Dunga der Sündenbock, weil er im Achtelfinale gegen Argentinien zu spät grätschte. 1994 wurde Brasilien Weltmeister – und trotzdem war die Nation mit der Art und Weise nicht einverstanden. 1998 wurde rund um Ronaldo Verschwörungstheorien gesponnen. Und nur 2002 war dann alles wieder gut. 2006 waren es dann Roberto Carlos und seine Strümpfe, über die das ganze Land herzog. 2010 wurde Felipe Melo eine unglückliche Kopfballverlängerung zum Verhängnis und über 2014 brauchen wir nach dem 1:7 gar nicht erst reden.

    Sie sind mit Brasilien 2006 im Viertelfinale gegen Frankreich ausgeschieden…

    Zé Roberto: …und diese Niederlage hat noch sehr lange an mir genagt. Man fliegt nach Hause, wenn das Turnier doch gerade erst so richtig anfängt. Und zu Hause wollen dann alle von Dir wissen, wie das passieren konnte. Es war hart. Sehr hart. Aber wenn Brasilien sich in Russland weiterhin von Spiel zu Spiel so steigert wie bisher, dann braucht sich in diesem Jahr niemand Sorgen machen.

    Täuscht der Eindruck oder spielt Brasilien bei dieser WM sehr deutsch?

    Zé Roberto: Der Eindruck täuscht überhaupt nicht. Genauso habe ich es auch empfunden. Brasilien spielt endlich deutsch. Beim 1:1 gegen die Schweiz ging es zunächst nur um das Ergebnis. Dann steigerte sich Brasilien aber von Spiel zu Spiel, wie man das sonst immer Deutschland als sogenannte Turniermannschaft nachsagt. Die Leistung gegen Serbien war dann sehr reif.

    Wie hat Trainer Tite diese noch vor zwei Jahren am Boden liegende Mannschaft so schnell wieder aufgerichtet?

    Zé Roberto: Tite ist zwar schon 57 Jahre alt, aber er ist ein extrem moderner Trainer. Er hat eine klare Idee von Fußball – und verfolgt diese sehr konsequent. Er hat es tatsächlich geschafft, zwischen begeisternden Offensivfußball, der immer in Brasilien gefordert wird, und defensiver Stabilität ein Gleichgewicht zu entwickeln. Zudem setzt Tite sehr auf seinen Trainerstab, der offen ist für europäische Einflüsse. Einer seiner Co-Trainer ist beispielsweise Sylvinho, der lange in Barcelona gespielt hat. Auch sein Know-how kommt der Seleção zugute. Zudem muss man Tite zugutehalten, dass er nicht nur auf eine starke Elf setzt. Er gibt allen Spielern im Kader das Gefühl, wichtig zu sein. Und nur so war es möglich, die kurzfristigen Ausfälle der extrem wichtigen Außenverteidiger Dani Alves und nun auch Marcelo erstklassig zu ersetzen.

    Erstklassig sind auch immer die Diskussionen rund um Neymar. Wie bewerten Sie seine bisherige Performance?

    Zé Roberto: Viele scheinen zu vergessen, dass Neymar fast drei Monate verletzt gefehlt hat. Da war es doch klar, dass er sich im Turnier zum Start möglicherweise schwer tun würde. Doch genau wie die Mannschaft wurde auch Neymar von Spiel zu Spiel besser. Und gegen Serbien war plötzlich ein ganz anderer Neymar auf dem Platz. Seine beiden Pässe auf Gabriel Jesus waren zwei Geniestreiche.

    Auf Ihrer Paradeposition im defensiven Mittelfeld spielt Casemiro, …

    Zé Roberto: …der für mich ein Schlüsselspieler für den Erfolg der Seleção ist. Er ist Tites wichtigster Akteur im Hinblick darauf, das Gleichgewicht zwischen Offensive und Defensive im Blick zu behalten. Genau das macht er ja auch schon seit Jahren bei Real Madrid. Nur durch sein intelligentes Spiel kann ein Künstler wie Kroatiens Luka Modric sorglos zaubern. Ich finde, dass Casemiro viel zu wenig gewertschätzt wird. Aus meiner Sicht hätte auch eher Casemiro und nicht Paulinho zum „Man of the Match“ beim Spiel gegen Serbien gewählt werden sollen.

    Sie scheinen recht zuversichtlich. Wird Brasilien Weltmeister?

    Zé Roberto: Bei dieser Weltmeisterschaft fallen seriöse Prognosen schwer, weil am Ende doch immer alles anders kommt, als man denkt. Wer hätte denn gedacht, dass Deutschland Gruppenletzter wird, dass der Iran Unentschieden gegen Portugal spielt oder das Island Argentinien in die Knie zwingt. Aber ich bin mal mutig und lege mich fest, dass Brasilien gegen Mexiko gewinnt und dann auf Belgien trifft. Das wird noch mal ein ganz schweres Spiel.

    Das war keine mutige Prognose.

    Zé Roberto: Ok, ok. Brasilien wird Weltmeister.

    Wir haben mit einem traurigen Thema angefangen – und wir müssen mit einem traurigen Thema aufhören. Wie haben Sie den Abstieg des HSV verfolgt?

    Zé Roberto: Genauso wie das Ausscheiden der Deutschen. Beides konnte ich gar nicht glauben. Wobei der Unterschied ist, dass der HSV ja schon in den vergangenen Jahren immer nur um das Überleben gekämpft hat. Als ich noch in Hamburg war, haben wir um die Qualifikation zur Champions League und um den Einzug in ein europäisches Finale gekämpft. Und jetzt ist dieser großartige Verein abgestiegen. Wahnsinn.

    Haben Sie Hoffnung auf Besserung?

    Zé Roberto: Ich habe immer Hoffnung. Am wichtigsten wäre aber, dass der HSV aus seinen Fehlern lernt. In Hamburg ging es immer nur um Politik und nie um Fußball. Die Clubchefs, Präsidenten, Sportchefs und Trainer wechselten so oft, dass man gar nicht mehr mitzählen konnte. So war der schleichende Tod des HSV unvermeidbar. Aber ähnlich wie bei der Deutschen Nationalmannschaft hoffe ich auch beim HSV, dass die Chance des kompletten Neuanfangs gescheit genutzt wird. Keine Sorge: Der HSV spielt bald wieder in der Bundesliga – und auch Deutschland wird sich wieder erholen. Ganz sicher.