Moskau. Die gereiften Belgier schwingen sich beim 5:2 gegen Tunesien zur Attraktion der WM auf und zeigen dabei kontrollierten Offensivfußball.

Hinterher ging es schnell wieder um jene Frage, die die Belgier schon seit Jahren begleitet, die aber bisher nie eine sportlich zufriedenstellende Antwort fand. Als gar nicht so geheimer Geheimfavorit war die prominent besetzte Mannschaft bereits 2014 zur WM nach Brasilien und 2016 zur EM nach Frankreich gereist. Doch jeweils schied sie im Viertelfinale aus, was vor allem vor zwei Jahren wegen der 1:3-Niederlage gegen Wales sehr enttäuschend geriet.

Nun aber scheint die Mannschaft tatsächlich mit jener Schärfe, Fokussierung und vor allem taktischen Reife ausgestattet zu sein, die nötig sind, um nicht ein ewiges Versprechen zu bleiben.

So sieht Martinez die Favoritenfrage

Die Antwort auf die Frage, ob sie sich selbst als Geheimfavoriten oder gar Favoriten auf den Titelgewinn in Russland wahrnehmen, fiel bei Trainer Roberto Martínez nach dem spektakulären 5:2 (3:1) gegen Tunesien am Samstag ähnlich gewieft aus, wie er seine Elf agieren lässt. Der Spanier sagte: „Jeder darf seine Meinung haben. Aber um Favorit sein zu können, musst du wissen, wie man eine WM gewinnt.“

Das kann Belgien nachweislich nicht von sich behaupten, also stellt sich die Favoritenfrage dieser These zufolge nicht. So kann man sich auch aus der Affäre ziehen.

Gegen Tunesien ließ sich allerdings sehr gut erkennen, warum dieser Mannschaft bei aller gebotenen Vorsicht wegen der Unwägbarkeiten eines Turniers attestiert werden darf, dass sie zumindest über die nötigen Zutaten verfügt, um die Russland-Rundreise noch lange fortzusetzen. Fünf Tore hatte sie geschossen, womit die Tunesier sogar glimpflich davongekommen waren. Doppelt so viele Tore hätten es auch werden können, und selbst dann hätte den Belgiern noch immer ein Hang zur Verschwendungssucht nachgesagt werden können.

Batshuayi hätte noch mehr Tore schießen können

Allein der erst in der 68. Minute eingewechselte Stürmer Michy Batshuayi, zuletzt bei Borussia Dortmund aktiv, hätte es nach Großchancen auf ein halbes Dutzend Tore bringen können. Doch auch so genügten die beiden Doppelpacks von Kapitän Eden Hazard (6., FE/51.) und Romelu Lukaku (16./45.+3) sowie das Tor des doch noch belohnten Batshuayi (90.), um die Belgier als bisherige Topattraktion dieser WM wahrzunehmen.

König Philippe suchte nach dem Abpfiff im Moskauer Spartak-Stadion die Teamkabine auf, um seine Anerkennung persönlich zu übermitteln. „Es war gut“, soll er so schlicht wie treffend gesagt haben.

Rotation angekündigt

Das Achtelfinale betrachteten die Belgier danach zurecht als gebucht. Zusammen mit dem 3:0 vom Auftakt gegen Panama stehen nun zwei Siege und 8:2-Tore in ihrer Zwischenbilanz. Im letzten Gruppenspiel gegen England am Donnerstag in Kaliningrad geht es um Platz eins in der Staffel G. Trainer Martínez kündigte unabhängig davon bereits eine größere Rotation an. Geschont werden könnte womöglich das Offensivtrio Hazard, Lukaku und Dries Mertens. Alle drei waren mit wohl nur leichten Blessuren ausgewechselt worden.

Dass die vielen Hochbegabten aus Belgien bisher die Hymnen auf sie bestätigen, hat maßgeblich mit ihrem Trainer zu tun. Der 44 Jahre alte Spanier, bereits seit elf Jahren als Coach tätig, übernahm die Mannschaft im August 2016 von Marc Wilmots, dem eher nicht nachgesagt wurde, ein pfiffiger Taktiker zu sein. Nun lehrt der smarte Martínez einen Stil, der trotz seiner offensiven Anlage nicht als Hurrafußball daherkommt, sondern auf der Basis der Vernunft vorgetragen werden soll. Inspirieren ließ sich der ehemalige Mittelfeldspieler von Johan Cruyff und Pep Guardiola.

"Wir brauchen Balance“

Ganz austreiben konnte er seiner Mannschaft zwar noch nicht die Makel in der Defensive. Zu besichtigen war das auch gegen Tunesien, wie bei den Gegentoren durch Dylan Bronn (18.) und Kapitän Wahbi Khazri (90.+3). Aber die Stabilität hat deutlich zugenommen. 21 Spiele in Serie hat die Mannschaft nicht verloren, nur beim Einstand von Martínez unterlag sie 0:2 – gegen sein Heimatland. Und der Trainer schärft die Sinne seiner Spieler weiter, bei aller Offensivfreude als kompaktes Gebilde zu agieren. „Dass wir Tore schießen können, ist wegen des individuellen Talents keine Frage. Das Talent kann jeder sehen“, sagte er nach dem 5:2, „aber es braucht mehr als das. Wir brauchen Balance.“ Daran feilt er weiter.

Die Spieler nehmen seine Lehre und Korrekturen an, sie agieren erkennbar als Einheit mit einem gemeinsamen Ziel. Hazard hatte dieses schon vor Turnierbeginn vorgetragen, und auch nach dem Erfolg gegen Tunesien sagte er ohne Umschweife auf die seit Jahren gestellte Standardfrage, ob Belgien der Geheimfavorit sei: „Ich denke, wir sind ein gutes Team. Wir wollen das Finale erreichen.“ Viel Überzeugung sprach dabei aus ihm, anmaßend konnte diese bei den Zuhörern unter dem Eindruck der beiden jüngsten WM-Vorträge aber kaum klingen, zumal sich viele andere Favoriten gegen die vermeintlich Kleinen reihenweise abmühen. „Wir sind stärker als vor vier Jahren“, sagte Hazard selbstgewiss, „wir sind in einer sehr guten Form.“

Lukaku auf Maradonas Spuren

Allen voran gilt das für Lukaku, der als erster Spieler seit Diego Maradona 1986 in zwei WM-Spielen hintereinander doppelt traf und nun gleichauf mit Portugals Cristiano Ronaldo mit vier Toren die Liste der erfolgreichsten Schützen dieser WM anführt. „Die Tore sind die Konsequenz deiner Arbeit auf dem Platz“, referierte Martínez dazu, „wenn wir uns als Team weiter verbessern, sind Tore die logische Folge.“ Bei Stürmer Lukaku wie bei den Kollegen. Aber, das sagte Martínez auch: „Es gibt noch viel zu verbessern.“

Er sieht seine Mannschaft weiterhin „in einem Prozess, wir wachsen noch“. Doch wenn der Eindruck nicht täuscht, sind aus den zuvor halbstarken Belgiern inzwischen schon ziemlich weit gereifte junge Männer geworden. Sie kommen nicht mehr wie hochveranlagte, aber zu draufgängerische Fahranfänger daher. Sondern man scheint ihnen eine lange Rundreise durch Russland durchaus anvertrauen zu können. Dank der Leitplanken von Martínez.