Essen. Paul Breitner war 1972 dabei, als eine DFB-Auswahl erstmals England im Wembley-Stadion besiegen konnte. Auch das damalige Team war im Umbruch.

Im Internet lassen sich Filmaufnahmen aufstöbern, die zeigen, wie Deutschlands Nationalspieler 1972 in grünen Trikots über den Rasen des legendären Wembley-Stadions in London eilten. Wie Günter Netzer an den englischen Gegenspielern vorbeiwetzte und nach seinem Elfmetertor unkontrolliert hochhopste. Wie Franz Beckenbauer über den Platz schritt. Wie Gerd Müller diese Partie kurz vor dem Abpfiff entschied, indem er sich erst drehte und dann den Ball in die linke Ecke drosch.

Wegbereiter für den ersten EM-Titel

„Eine Sensation des Weltfußballs“, schrieben die Medien, als Deutschland zum ersten Mal im Wembley-Stadion gewann. 3:1 endete das Hinspiel im Viertelfinale der Europameisterschaft. Die deutschen Tore erzielten Uli Hoeneß (26.), Günter Netzer (85.) und Gerd Müller (88.). Francis Lee glich zwischenzeitlich aus (77.). Im damals noch ausgetragenen Rückspiel reichte der Mannschaft von Trainer Helmut Schön ein 0:0 auf dem Weg zum ersten Titel bei einer EM.

Ex-Nationalspieler Paul Breitner weiß, wie man in Wembley gewinnt.
Ex-Nationalspieler Paul Breitner weiß, wie man in Wembley gewinnt. © Getty.

Zwei Jahre später küsste ein Großteil der Mannschaft sogar den Weltmeister-Pokal und schrieb damit eine Erfolgsgeschichte, ohne die der Fußball heute vielleicht nicht diese enorme Bedeutung in diesem Land hätte. Wenn Deutschland heute Abend (18 Uhr/ARD) erneut bei einer EM im Wembley-Stadion gegen England bestehen muss, dann werden die Einschaltquoten im TV auch deswegen hochgehen, weil sich damals der Blick auf die lange als Proletenbeschäftigung abgestempelte Sportart veränderte.

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Das Spiel rückte in die Mitte der Gesellschaft, galt plötzlich als angesagt, schick. Sogar Kultur-Redakteure philosophierten nach dem Erfolg im Wembley-Stadion über die Laufwege eines Günter Netzer. Überhaupt regnete es nach diesem Sieg am meisten Lametta. Weil sich die deutsche Mannschaft nicht zu den drei Toren ackerte, sondern so aufregend und wild aufspielte wie eine Rock’n’Roll-Band. Im mystischen Wembley-Stadion begründete sie ihren eigenen Mythos.

„Jeder wusste, wo der andere steht“

Heute geht es also wieder gegen England – und wie man in Wembley gewinnt, weiß einer noch ganz genau: „Der Sieg im Wembley-Stadion 1972 zählt zu den fünf wichtigsten Spielen in meinem Leben“, sagt Paul Breitner. „Wir waren die beste deutsche Mannschaft, die es jemals gegeben hat.“ Es sei zwar schwierig, früher mit heute zu vergleichen. „Aber wir standen damals über allen anderen Mannschaften. Wir hatten eine perfekte Symbiose aus jungen und alten Spielern, aus Künstlern und Arbeitern“, meint der Ex-Profi des FC Bayern. „Jeder wusste, wo der andere steht. Und jeder war bemüht, sein Maximum herauszuholen. Das war einzigartig.“

Fast 100.000 Zuschauer quetschten sich 1972 in die legendären Gemäuer, die schon damals viele Dramen erlebt hatten. Etwa sechs Jahre zuvor, als Deutschland sich im WM-Finale gegen England auch durch das legendäre Wembley-Tor von Geoff Hurst 2:4 geschlagen geben musste. Auf den Videoaufnahmen von der Revanche verschwommen die Fans zu einer Masse, während die junge deutsche Mannschaft verdeutlichte, dass sie ihrem Gegner überlegen war.

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Breitner, damals erst 20 Jahre alt, verkörperte die Rolle als linker Verteidiger ungewohnt offensiv. Netzer und Beckenbauer strukturierten den Aufbau gemeinsam – preschte der eine nach vorne, ließ sich der andere fallen. „Die Art und Weise, wie wir Fußball interpretiert haben, war fantastisch“, sagt Breitner. „Fast hätte ich manchmal auf dem Platz geklatscht. Es war eine Freude.“

Die Kulisse beeindruckt noch heute

Noch immer fasziniert den heute 69-Jährigen das englische Publikum. „Die Leute standen hinter ihrer Mannschaft, sie haben nie gepfiffen, sondern sie bis zum Schluss unterstützt. Die Stimmung habe ich genossen“, sagt Breitner. „Auch als wir 1972 gewonnen haben. Vermutlich haben sie gespürt, dass wir noch viel höher hätten siegen können. Das war damals perfekter Fußball.“

Und heute? Die Leistung der aktuellen DFB-Auswahl möchte Paul Breitner nicht kommentieren. Große Rückschlüsse lassen sich aus dem Erfolg von damals ohnehin nicht ziehen. Das Spiel hat sich weiterentwickelt. Die Profis benötigen eine bessere Athletik, sie sind größeren taktischen Zwängen unterworfen. 1972 befand sich die Nationalelf jedoch wie der aktuelle Kader von Bundestrainer Joachim Löw im Umbruch. Eine neue Generation übernahm, verzückte erstmals in Wembley. Gelingt dies Deutschland heute auch, werden Filmaufnahmen es in jedem Fall bezeugen.