München. Bayerns radikaler Trainerwechsel vor dem Bundesliga-Gipfel überrumpelt selbst Münchner Stars. Tuchel löst Nagelsmann im Saisonendspurt ab. Ein Null-auf-hundert-Start mit schweren Aufgaben.

Kurz nach 16.00 Uhr brauste Julian Nagelsmann als Münchner Ex-Trainer ohne Schlussworte vom Vereinsgelände - die Saison des Fußball-Rekordmeisters soll jetzt Thomas Tuchel krönen.

Die offizielle Bestätigung für den spektakulären Traineraustausch verkündeten die Bayern-Bosse um Oliver Kahn am Freitag aber erst nach 20 turbulenten Stunden und als die Nachricht längst in der ganzen Fußballwelt bekannt war. „Nach der WM haben wir immer weniger erfolgreich und attraktiv gespielt, die starken Leistungsschwankungen haben unsere Ziele in dieser Saison infrage gestellt, aber auch über diese Saison hinaus. Deshalb haben wir jetzt reagiert“, begründete Vorstandschef Kahn den drastischen und beim Zeitpunkt verblüffenden Schritt bei Deutschlands Topclub.

Tuchel-Vertrag bis 2025

Der 49-jährige Tuchel erhält einen Vertrag bis zum 30. Juni 2025 und wird am Montag erstmals das Training leiten. Offiziell als Trainer präsentiert wird der zuletzt vereinslose Topcoach an diesem Samstag um 12.00 Uhr in der Allianz Arena.

Der 2021 für eine Rekordablöse im zweistelligen Millionenbereich und für fünf Jahre verpflichtete Nagelsmann, der in dieser Woche noch beim Skifahren in Österreich weilte, düste ohne Abschiedsworte mit seinem dunklen Dienstwagen aus der Tiefgarage. Rund eine Stunde dauerte das Abschiedsgespräch. Kamerateams und Fotografen belagerten den gesamten Tag lang das Vereinsgelände - auch in der Hoffnung, Tuchel ablichten zu können.

Der Münchner Trainer-Knall schreckte eine Woche vor dem Topspiel des Tabellenzweiten gegen Spitzenreiter Borussia Dortmund die Bundesliga auf. Pikant ist, dass der ehemalige BVB-Coach Tuchel die Bayern bei seinem Null-auf-hundert-Start ausgerechnet im Topspiel gegen die Dortmunder in einer Woche in München erstmals coacht. Tuchel hatte in dieser Spielzeit beim FC Chelsea gehen müssen, mit dem er 2021 die Champions League gewonnen hatte. 2020 unterlag der Ex-Coach des FSV Mainz 05 und der Borussia mit Paris Saint-Germain den Münchnern im Finale der Königsklasse.

Tuchel erfüllt alle Punkte des Münchner Anforderungsprofils. Er arbeitete etwa bei PSG schon mit namhaften Stars zusammen. Allerdings eckte er bei seinen vorherigen Stationen auch an. Unumstritten war menschlich auch der eloquente Nagelsmann in München nicht. Die Bayern-Bosse erkannten trotz eines top besetzten Kaders zudem keine nachhaltige sportliche Verbesserung unter dem extrovertierten Coach, der mit dem Achtelfinal-Coup gegen Paris seinen größten internationalen Bayern-Erfolg feierte. In Bundesliga, Champions League, DFB-Pokal sind noch alle drei Titel möglich. Tuchel soll die Arbeit von Nagelsmann fortsetzen und nach Münchner Wünschen mit dem dritten Triple der Vereinsgeschichte vollenden.

„Schwierigste Entscheidung“ für Salihamidzic

„Das ist die schwierigste Entscheidung in meiner Zeit als sportlich Verantwortlicher des FC Bayern gewesen“, sagte Sportvorstand Hasan Salihamidzic über die Trennung von Nagelsmann. „Nach gründlicher Analyse der sportlichen Entwicklung unserer Mannschaft speziell seit Januar und mit den Erfahrungswerten der Rückrunde in der Vorsaison haben wir jetzt gemeinsam entschieden, Julian freizustellen.“ Mit Nagelsmann werden auch die Assistenztrainer Dino Toppmöller, Benjamin Glück und Xaver Zembrod von ihren Aufgaben entbunden.

Nationalmannschafts-Kapitän Joshua Kimmich fand schon Stunden zuvor ruhmreiche Abschiedsworte. „Ich kann nur sagen, dass Julian Nagelsmann ein überragender Trainer ist. Ich würde sagen, dass er locker in den Top 3 meiner besten Trainer ist“, sagte der 28-Jährige in Frankfurt bei der Nationalmannschaft. Das Geschehen in München überstrahlte auch die Vorbereitung der DFB-Auswahl auf das Länderspiel am Samstag gegen Peru. „Es wird nicht so sein, dass das alle beflügelt“, sagte Bundestrainer Hansi Flick.

Der Verein war offensichtlich davon überrascht worden, dass die spektakuläre Trainer-Entscheidung am späten Donnerstagabend über externe Kanäle publik geworden war. Der international gut vernetzte Transferexperte Fabrizio Romano hatte zuerst berichtet, dass die Münchner eine Trennung von Nagelsmann in Erwägung ziehen. Spät am Abend meldete dies die „Bild“-Zeitung als fix. Bis zur offiziellen Bestätigung verging dann fast ein Tag.

Zeitpunkt überrascht

Der Zeitpunkt der aufsehenerregenden Personalie kommt vor dem BVB-Gipfel sowie den K.o.-Duellen mit dem SC Freiburg im DFB-Pokal und Manchester City in der Königsklasse überraschend, begründet sich aber in der aktuellen Gesamtkonstellation. Trainerwechsel sind immer auch eine Frage der Alternative. Tuchel war auf dem Markt - und international begehrt. Angeblich war er auch Kandidat bei Real Madrid und Tottenham Hotspur. Entweder jetzt oder wieder nicht, könnte die Frage beim Bayern-Kalkül gelautet haben.

Im Frühjahr 2018 hatten die Münchner bei Tuchel, den nun schnell das prickelnde Duell mit den hochgeschätzten City-Coach Pep Guardiola im Viertelfinale erwartet, gezögert. Damals hatte Uli Hoeneß zu lange gehofft, Jupp Heynckes doch noch zum Weitermachen überreden zu können. Am Ende kam Niko Kovac, der trotz des Gewinns von Meisterschaft und DFB-Pokal im zweiten Amtsjahr vorzeitig gehen musste - und mit dem Bayern nicht glücklich wurde. Ähnliches wiederholt sich nun beim letztjährigen Meistercoach Nagelsmann, der zuletzt mit 1:2 in Leverkusen verloren hatte.

Man sei „zu der Erkenntnis gekommen, dass sich die Qualität unseres Kaders - trotz der deutschen Meisterschaft im vergangenen Jahr - zunehmend seltener gezeigt hat“, sagte Kahn. Bis zuletzt sei es das Ziel gewesen, langfristig mit Nagelsmann zusammenarbeiten. Das hatten die Bosse bis zur überraschenden Wende auch immer wieder betont.

Um Nagelsmann gab es neben den sportlichen Dämpfern zu viele Nebenschauplätze. So sorgte etwa die von ihm vorangetriebene Ablösung des Manuel-Neuer-Vertrauten Toni Tapalovic als Torwartcoach für viel Wirbel. Mit einer Beziehung zu einer Reporterin machte er sich intern angreifbar. Dass Erfolge beim FC Bayern nicht vor Trennungen schützen, ist übrigens nicht neu. Auf dem Weg zum UEFA-Cup-Titel 1996 musste Otto Rehhagel einst nach dem Finaleinzug gehen. Mit Franz Beckenbauer als Interimscoach holten die Bayern im Endspiel den Europapokal.