Dortmund/München. Der BVB geht als Tabellenführer ins Spitzenspiel gegen Bayern. Nicht nur deswegen sieht Ex-Profi Thomas Helmer Dortmund im Vorteil.

Natürlich wird Thomas Helmer genau hinschauen, wenn Borussia Dortmund am Samstag (18.30 Uhr/Sky) den FC Bayern empfängt. Weil er mit beiden Klubs verbunden ist, von 1986 bis 1992 für den BVB und dann bis 1999 für den FC Bayern spielte. Und weil er die Partie am Sonntag ausführlich aufbereiten muss, wenn er ab 11 Uhr den Doppelpass auf Sport1 moderiert. Im Interview erzählt der Ex-Profi, was er von dem Duell erwartet – und was die Dortmunder den Bayern voraus haben.

Herr Helmer, muss der BVB derzeit vor Bayern Angst haben?

Thomas Helmer: Wenn man das Spiel am Mittwoch als Maßstab nimmt sicher nicht. Aber Angst sollte man eh nicht haben, das werden die Dortmunder auch nicht. Aber natürlich wird Respekt da sein. Außerdem gucken alle auf dieses Spiel und ich gespannt, wie die junge BVB-Mannschaft damit klarkommt zu wissen, sie kann einen Riesenschritt machen, sie kann die Bayern noch mehr ärgern. Verkrampft man da, oder bleibt man locker? Das wird für die Dortmunder gar nicht so einfach.

Aus München kommen überraschend sanfte Töne, Uli Hoeneß macht den BVB sogar zum Favoriten.

Helmer: Das liegt daran, dass er gesehen hat, wie Dortmund zuletzt gespielt hat. Er sieht: Die marschieren richtig und sind sehr schnell – und das fehlt den Bayern momentan ein bisschen.

Dortmund will die Favoritenrolle auch nicht haben. Wem würden Sie sie denn zuweisen?

Helmer: Aufgrund der Saison bisher ist der BVB in einer komfortableren Situation. Er hat bisher auch die besseren Leistungen gezeigt und ist deswegen am Samstag Favorit. Nehmen wir das Spiel am Dienstag mal raus, in Madrid hätte ich auch nicht gerne gespielt, wenn ich sie vorher 4:0 weggehauen hätte. (lacht) Da weiß man, die lassen sich das nicht gefallen, deswegen würde ich das nicht überbewerten. Bisher hat der BVB eine sehr gute Saison gespielt und deswegen spricht vieles für die Dortmunder, gerade in einem Heimspiel.

Und für die Bayern?

Helmer: Sie wissen natürlich, wie man mit solchen Situationen umgeht, da sind sie sehr erfahren. Und die werden gesehen haben, dass der BVB in den Spielen gegen Augsburg und Hertha große Probleme hatte. Gegen Augsburg hätte Dortmund eigentlich nicht mehr gewinnen dürfen, weil Augsburg das bärenstark gemacht hat und viele Chancen hatte. Und Hertha hat auch gezeigt, wie man dem BVB Probleme bereiten kann. Denn der Defensivverbund beim BVB lässt immer noch zu viele Chancen zu.

Sie kennen es ja aus eigener Erfahrung: Was ist los beim FC Bayern, wenn man am elften Spieltag nur als Verfolger zum BVB fährt?

Helmer: Normalerweise gibt es eine Trotzreaktion. Die Spieler sagen sich: Irgendwann ist auch mal gut, sie wollen die ganze Kritik, die natürlich kommt, nicht auf sich sitzen lassen. Und sie haben viele erfahrene Spieler. Natürlich heißt es: Der eine oder andere ist zu alt und packt es nicht mehr so richtig, und über die ganze Saison mag das auch stimmen. Aber in so einem Spiel kann das trotzdem nochmal den Ausschlag geben, dass die Jungs sagen: Passt auf, wir zeigen euch jetzt mal, dass wir Deutscher Meister sind – und zwar zurecht.

Derzeit wirkt der Klub sehr gereizt. Die Gelassenheit, das typische Mia-san-mia-Gefühl scheint zu fehlen.

Helmer: Nun ja, dass ab und an mal ein paar Sachen nach außen dringen, dass Spieler, die nicht spielen frustriert sind, würde ich nicht zu hoch hängen, das ist ganz normal. Das wirkt natürlich doppelt so stark, wenn die Ergebnisse nicht stimmen. Und dann ist die Öffentlichkeitsarbeit momentan auch nicht immer geschickt. Wir haben jetzt eine Woche darüber geredet, dass Lisa Müller in einem Instagram-Post den Trainer kritisiert hat…

Aber auch deswegen, weil der Verein es für nötig hielt, hochoffiziell mit einer Pressemitteilung darauf zu reagieren.

Helmer: Natürlich. Niko Kovac hatte ja super reagiert, als er sagte: Das war nicht der Thomas, ich habe die Entschuldigung angenommen. Damit ist das Thema eigentlich durch. Dann kommt nochmal eine Presseerklärung und man muss sagen: Manchmal ist weniger auch mehr.

Zeigt das nicht, wie verunsichert der Klub derzeit ist?

Helmer: Mag sein. Wenn wir mal aufs Spiel am Samstag blicken: Dortmund hat den Umbruch vollzogen und musste es auch tun, weil Spieler wie Aubameyang und Dembélé gehen wollten. Aber Dortmund hat es dann konsequenter durchgezogen als die Bayern. Dort hat man gedacht, man könne es so nach und nach machen. Und inzwischen scheinen die Bayern erkannt zu haben, dass das ein Fehler war und der Kader zu klein ist. Natürlich kann man nicht ahnen, dass sich Coman verletzt, das ist einfach Pech. Aber das ist ja nur ein Spieler. Da hat man insgesamt etwas versäumt.

Hätte Kovac da energischer auf Neuverpflichtungen drängen müssen?

Helmer: Vielleicht. Ich hätte es an seiner Stelle aber auch nicht gemacht. Man kommt ja gerade erst zu den Bayern, freut sich auf diesen Job. Und jetzt stellt sich natürlich auch die Frage: War es richtig, mit Robben und Ribery zu verlängern? Ich hätte es auch gemacht. Aber dann muss man auch Backups holen, die auf einem ähnlichen Niveau sind. Da trifft momentan vieles zusammen und die Bayern spüren, dass es nicht so leicht ist wie in den vergangenen Jahren. Und das erklärt vielleicht, dass sie nach außen derzeit so gereizt wirken.

Glauben sie, dass der Posten von Trainer Niko Kovac schon in Gefahr ist?

Helmer: Puh. Wenn in den nächsten Wochen die Ergebnisse auch nicht stimmen, werden natürlich alle auf ihn schauen und ihn kritisieren, das ist ja logisch. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass sein Posten akut gefährdet ist. Ich halte ihn auch für einen guten Trainer. Es ist eine schwierige Aufgabe, der Kader ist, wie er ist, das wissen auch die Verantwortlichen.

Sie haben selbst mal gesagt: Bei den Bayern suchen die Spieler sofort nach Schwächen beim Trainer und es entwickelt sich schnell eine Dynamik. Hat Kovac die nötige Erfahrung, um da dagegenzuhalten?

Helmer: In Frankfurt hatte er unzählige Nationalitäten im Kader und hat das auch hinbekommen, das traue ich ihm schon zu. Aber es ist natürlich etwas Anderes, ob man Bayern oder Frankfurt trainiert. In Frankfurt hat man vermutlich mehr verziehen. Sobald bei Bayern die Ergebnisse nicht stimmen, gibt es Kritik. Er hat ja super angefangen, da haben wir ihn alle in den Himmel gelobt – auch zurecht. Dann fing irgendwann die Rotation an – und ich habe das Gefühl, dass dann das Ganze in die falsche Richtung ging. Natürlich braucht man Autorität bei den Bayern, sonst geht gar nichts. Die Spieler spüren genau, wenn ein Trainer Schwäche zeigt, das ist gefährlich. Aber ich denke, er steuert dagegen.

Ist es ein Problem, dass er in Hasan Salihamidzic einen recht unerfahrenen Sportdirektor an seiner Seite hat?

Helmer: Das weiß ich nicht. Die Bayern haben ja in Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß zwei, die schon ewig dabei sind. Eigentlich ist es für Brazzo ideal als jemand, der den Job noch nie gemacht hat, wenn er bei den beiden lernen kann. Momentan hat man aber nicht das Gefühl, dass alles gut aufeinander abgestimmt ist. Deswegen gibt er keine gute Figur ab, was mir leid tut für ihn. Aber genug Erfahrung ist bei den Bayern definitiv da.

Die Bayern haben am Samstag die Chance, vieles ins Positive zu drehen. Könnte für den BVB eine weitere Niederlage dagegen einen Dämpfer bedeuten und der Schwung abhanden kommen?

Helmer: Das wird sowieso irgendwann kommen. Dortmund wird ja nicht die ganze Vorrunde auf diesem Niveau spielen, das wäre schon eine Sensation. Aber natürlich hat der FC Bayern am Samstag mehr zu verlieren. Selbst wenn der BVB verliert, dabei aber ein gutes Spiel gemacht hat – und davon gehe ich aus –, werden die Spieler später gefeiert. Dann ist ja nichts passiert, sie haben immer noch einen Punkt Vorsprung. Natürlich würde es sie ärgern, weil sie eine tolle Chance verpasst hätten. Aber eine viel bessere Ausgangsposition als die der Dortmunder gibt es doch eigentlich gar nicht.

Für die Bayern gilt das nicht, eine Niederlage und sieben Punkt Rückstand wären schon heftig.

Helmer: Ja, zumal wir uns nicht nur immer auf Dortmund fokussieren dürfen: Gladbach und Leipzig sind ja auch oben dabei, da ist alles sehr eng. Da wird es für Bayern bei einer Niederlage schon etwas kribbliger.

Was macht Dortmund derzeit besser als die Bayern?

Helmer: Sie haben in Delaney und Witsel Mentalität eingekauft, was ich sehr wichtig finde, gerade auf den zentralen Positionen. Einer der beiden reißt die Mannschaft immer mit, die haben Erfahrung – das sind so Typen, die man braucht. Natürlich die Schnelligkeit, das muss man ganz klar sagen, die ist beeindruckend. Sancho wird als die Entdeckung gefeiert, durchaus zurecht. Aber ich finde vor allem Hakimi als Außenverteidiger überragend.

Allerdings defensiv auch mit Luft nach oben – wie so einige Dortmunder.

Helmer: Genau. Und natürlich wird das nicht immer klappen, dass man vorne mehr Tore schießt, als man hinten reinbekommt. Das Defensivverhalten ist vielleicht die Schwachstelle. Andererseits hat der BVB gerade einen Marco Reus in Bestform. Ich habe ihn noch nie so oft in so kurzer Zeit spielen sehen. Er macht das mit einem Tempo, mit einer Spielfreude – ich glaube, dass sich alle an ihm etwas hochziehen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Alcácer noch nicht einmal richtig fit ist. Den hat man ja auch noch in der Hinterhand. Das haben die Dortmunder im Sommer schon gut gemacht.

Haben Sie erwartet, dass der Umbruch so schnell klappt?

Helmer: Nein, damit hat wohl keiner so recht gerechnet. Aber bislang haben sie alles richtig gemacht: die Verpflichtung von Lucien Favre als Trainer, die Einkäufe, die sie getätigt haben – das haben Michael Zorc und Aki Watzke richtig gut erledigt.

Und sie haben sich in Sebastian Kehl und Matthias Sammer Impulse von außen dazu geholt.

Helmer: Ja, das war auch ein starker Schachzug. Matthias ist jemand, der Spiele gut lesen und Spieler beurteilen kann. Und Sebastian ist einer, der die Spieler gut erreicht. Wenn die mal mit Favre nicht klarkommen, kann ich mir vorstellen, dass er mit ihnen reden und das regeln kann, weil er die Sicht der Spieler noch hat und den Verein in- und auswendig kennt. Das war strategisch eine richtige Entscheidung.

Kann Dortmund schon bis zum Saisonende ein ernsthafter Konkurrent für die Bayern sein?

Helmer: Für den BVB könnte es tatsächlich ein Vorteil sein, dass sie den größeren Kader haben. Sie können es dann auffangen, wenn es mal schwere Verletzungen gibt. Bisher haben sie da im Vergleich zu den Bayern auch Glück gehabt, wo Coman und Tolisso sehr lange ausgefallen sind und Thiago jetzt auch wieder fehlt. Dortmund könnte das vermutlich eher kompensieren. Deswegen kann ich mir schon vorstellen, dass sie zumindest bis zum Winter oben bleiben – wenn sie das Spiel am Samstag nicht verlieren.

Und dann leckt man als Spieler doch Blut?

Helmer: Natürlich, und das ist doch auch gut so. Darüber freuen wir uns doch auch alle, dass ein bisschen Spannung da ist.

Bayern wird im Sommer sicher mit einer Transfer-Offensive reagieren. Kann der BVB ein Vorbild sein?

Helmer: Ich glaube nicht, dass sich die Dortmunder Philosophie mit der des FC Bayern deckt. Es ist in Dortmund immer noch ein bisschen einfacher als junger, talentierter Spieler. Bei den Bayern herrscht sofort eine größere Erwartungshaltung, da muss man auch mental sehr viel mitbringen. Das macht es so schwierig.

Zum Abschluss: Wie lautet Ihr Tipp für Samstag?

Helmer: 2:2, das tippe ich jedes Jahr.

Dann haben Sie aber zuletzt immer daneben gelegen.

Helmer: Ich weiß, aber irgendwann muss es ja mal klappen (lacht).