Sotschi. Vettel braucht im Austragungsort der Winterspiele 2014 einen Sieg, um die Titelhoffnungen am Leben zu erhalten. Mercedes bleibt cool.

Was sind schon 40 Punkte? Sechs Rennen vor Ende der Formel-1-Weltmeisterschaft eine ganze Menge, sollte man meinen. So rechnet Toto Wolff aber nicht, dessen Schützling Lewis Hamilton vor dem Großen Preis von Russland die Oberhand gegenüber Sebastian Vettel und Ferrari hat. „Es ist besser, als im Rückstand zu liegen“, gibt der Österreicher immerhin zu. Aber wenn er mahnt, dann warnt er gleichzeitig auch – den Gegner: „Es gibt bei uns keinen naiven Optimismus.“ Dabei gäbe es allen Grund: Ein Sieg noch von Hamilton, und die Ära der erfolgreichsten Jahre von Michael Schumacher bei der Scuderia wäre nach Siegen egalisiert – 47 Mal schon hat der Brite in den letzten viereinhalb Jahren für Mercedes gewonnen.

Mit solchen Statistiken muss man einem wie Hamilton nicht kommen. Er zieht seine Motivation, seinen Stolz aus den Zahlen jeder Runde, und niemand weiß besser als er, wie gefährlich Vettel und dessen PS-starker roter Rennwagen ist. Immer noch, gerade jetzt. Für den Heppenheimer geht es ein Stück weit auch darum, mit einem Titelgewinn nicht nur sein italienisches Team endlich zu erlösen, sondern auch den Respekt gezollt bekommen, den er sich seit 2014 verdient hat. Natürlich kommt es dabei vor allem darauf an, was im Cockpit passiert. Aber es geht auch darum, was sich im Kopf abspielt. Und von diesem mindset her scheint die Silberpfeil-Fraktion in dieser Saison gefestigter zu sein.

Wolffs Truppe hat die erstaunliche Frühform von Ferrari gekontert, sie hat das Technik-Tief zur Saisonmitte hingenommen, und sie haben alle Welt darüber reden lassen, wie sehr Maranello jetzt im Vorteil sei. Und was hat Maranello getan? Ist nervös geworden. „Kopf runter“ ist in der Mercedes-Rennfabrik in Brackley keine Geste der Demut, sondern eine der Konzentration. Auch die mentale Einstellung wird dieses Titelrennen entscheiden. Dementsprechend geht man auch damit um, dass bisher aller vier Rennen in Putins Motodrom an Mercedes gegangen sind, im Vorjahr feierte dort Valtteri Bottas seinen ersten Formel-1-Sieg. Wolff predigt dennoch einen Neuanfang, und jede einzelne Trainingssitzung für sich anzugehen, ohne das Große und Ganze zu bewerten: „Wir müssen um jedes Quäntchen Performance hart kämpfen.“

Hamilton und Wolff verbindet eine starke Beziehung

Es ist erstaunlich, wie das immer wieder funktioniert. Denn fünf Konstrukteurs- und Fahrertitel in Folge zu holen, das ist bisher tatsächlich nur Ferrari geglückt, als Jean Todt, Ross Brawn und Michael Schumacher zur Jahrtausendwende die Gesetze der Königsklasse neu schrieben. Optimierung war damals der Schlüssel, diese Perfektion im Renn-Rhythmus ist es auch heute noch. Lewis Hamilton, der momentan beste Selbstmotivator der Formel 1, probiert es vor dem 16. Von 21 WM-Läufen zur Abwechslung mit gesundem Pessimismus: „Ich denke nicht, dass du eine Hand am Pokal hast, ehe du ihn nicht mit beiden Händen umfassen kannst.“

Hamilton und Wolff verbindet eine gefestigte, starke Beziehung, nicht nur weil jeder weiß, wie sehr er den anderen braucht. Nach dem Rückzug von Nico Rosberg mussten die Rollen bei Mercedes neu definiert werden. Der Rennstall brauchte mehr denn je einen starken Nummer-Eins-Fahrer, andererseits lässt sich kein Team alles vom Piloten diktieren. Aber in einem stundenlangen Gespräch in der Wohnküche des Wolffschen Anwesens klärten die beiden die problematische Vergangenheit, die Aussichten für die Zukunft. Die gemeinsame Racer-Mentalität half ihnen, eins zu werden.

Lewis Hamilton ist in diesem Jahr mehr Mercedes denn je, er kann sich absolut auf seine Hintermänner verlassen, und das strahlt er auch aus. Sebastian Vettel muss, wenn er ehrlich ist, da ein paar kleine Fragezeichen setzen – die Diskussionen um seinen künftigen Teamkollegen oder um die Taktik haben das deutlich gemacht. Bei Ferrari ist der deutsche Ausnahmefahrer, gerade in nicht ganz so erfolgreichen Zeiten, vor allem ein leitender Angestellter, der sich dem Ego der Marke unterzuordnen hat. Seinem Teamchef Maurizio Arrivabene geht es kaum anders. In dieser Situation ist es schwierig, sich zu emanzipieren.

Wolff als Mitbesitzer des Mercedes-Teams und als Wegbereiter der Erfolgsära hat es in dieser Hinsicht leichter: „Mein Deal mit Lewis ist: Er muss auf der Strecke Leistung abliefern, alle anderen Freiheiten kann ich ihm geben. Denn unser Ziel muss es sein, dass wir das Beste aus den Sportlern herausholen, und dafür die besten Rahmenbedingungen schaffen. Da können wir nicht nur in Klischees und Schubladen denken – nach dem Motto: So haben sich Rennfahrer oder Fußballer zu verhalten, Punkt!“ Unter Druck muss sich weisen, welche Führungsrichtlinien die besseren für den Titelgewinn sind – die restriktiven oder die kreativen.