Köln. Beim 2:3 gegen Belgien wurde die DFB-Auswahl phasenweise vorgeführt. Hansi Flick hat zu wenig Spieler von internationaler Klasse.

Josha Vagnoman schlich wortlos aus dem Rhein-Energie-Stadion. Der langjährige HSV- und aktuelle Stuttgart-Profi hatte soeben sein erstes Länderspiel für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bestritten. Ein, zwei Sätze zu seinem Debüt? „Ne.“ Mehr hatte er nicht zu sagen. Wenige Meter neben ihm stand Kevin De Bruyne und referierte über den 3:2-Sieg der Belgier gegen Deutschland. Erst auf Französisch, dann auf Englisch und zum Abschluss noch einmal auf Deutsch. Zwischen Vagnoman und De Bruyne liegen Welten. Nicht nur in der sogenannten Mixed Zone, sondern vor allem auf dem Platz.

City-Superstar Kevin De Bruyne zeigt Deutschland die Grenzen auf

Der 22 Jahre junge Debütant, der in Stuttgart regelmäßig auf der Bank sitzt, ist natürlich nicht der Maßstab, wenn es um die Beurteilung des Ist-Zustandes der deutschen Nationalmannschaft geht. Das sind Spieler wie Joshua Kimmich (28) und Leon Goretzka (28), die ihre Klasse in zwei Wochen mit dem FC Bayern München im Viertelfinalhinspiel der Champions League bei der Weltauswahl von Manchester City um Weltstar De Bruyne (31) beweisen müssen.

Am Dienstagabend in Köln liefen Kimmich und Goretzka, das Herzstück der Nationalmannschaft, nur hinterher, als die Belgier um den brillanten De Bruyne der DFB-Auswahl eine 30-minütige Lehrstunde erteilten. Flüssiges Kombinationsspiel auf engen Räumen, maßgenaue Vertikalpässe, Hochgeschwindigkeit in der Umschaltbewegung. Die deutsche Viererkette mit Marius Wolf, Matthias Ginter, Thilo Kehrer und David Raum wusste gar nicht so recht, wie ihnen geschah. Vier Namen, die man zwar aus der Champions League kennt. Internationale Topspieler aber sind sie alle nicht. Das wurde von den Belgiern mit dem Brennglas vor Augen geführt. Nach 22 Minuten hätte es eigentlich 4:0 für den Weltranglistenvierten stehen müssen. „Das war das Schlechteste, was ich in meiner langen, langen Laufbahn gesehen habe“, sagte TV-Experte und Rekordnationalspieler Lothar Matthäus nach den frühen Gegentoren durch Yannick Carrasco (6.) und Romelu Lukaku (9.). Ein vernichtendes Urteil nach einem Spiel, das in der ersten halben Stunde an das demütigende 0:6 in Spanien vor zweieinhalb Jahren erinnerte. Es war der Tiefpunkt der Ära Joachim Löw.

Bundestrainer Hansi Flick watscht Florian Wirtz ab

Dass sein Nachfolger Flick nun einen neuerlichen Tiefpunkt verhinderte, hatte er seinem Mut zu unbequemen Personalentscheidungen zu verdanken. Flick nahm den indisponierten Florian Wirtz (19) schon nach 32 Minuten vom Feld und sprach hinterher deutliche Worte. „Es muss einmalig bleiben, dass wir solche 25 Minuten gesehen haben.“ Flick brachte Emre Can (29), der das Spiel mit seiner Körperlichkeit komplett veränderte. „Emre war der aggressive Leader, den wir gebraucht haben.“ Mit Can spielte Deutschland so, wie es der 58-Jährige sehen will. Und so wie es die Zuschauer sehen wollen nach den enttäuschenden WM-Jahren. „Wenn wir Einsatz und Leidenschaft zeigen, kommen auch die Fans“, sagte Can, der ein wichtiger Spieler für Flick sein kann, bei Borussia Dortmund aber zu selten beweist, dass er zur internationalen Topklasse gehört.

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In der zweiten Halbzeit zeigte Flicks Elf dann das Gesicht, das er bei der Heim-EM im Sommer 2024 sehen will. 16:7 Torschüsse dokumentierten am Ende, dass Deutschland sich nach der Pause deutlich gesteigert hatte. Vor allem Serge Gnabry zeigte, dass er das Potenzial zur Weltklasse hat – wenn er seine Schwankungen abstellen kann. Weitere Spieler, die an die Qualitäten der Lukakus und De Bruynes heranreichen, hatte der DFB allerdings nicht auf dem Platz.

Wie weit weg ist Deutschland von der Weltklasse? Sehr weit, wenn man die erste halbe Stunde gegen Belgien als Maßstab nimmt. Bis auf Kai Havertz, der im Starensemble des FC Chelsea regelmäßig herausragt, hat der DFB zurzeit keinen Spieler, den man in die Kategorie Weltklasse einordnen würde. Auch Kimmich und Goretzka schaffen es nicht, im defensiven deutschen Mittelfeld die Dominanz zu entwickeln, die am Dienstagabend etwa die früheren Hamburger Amadou Onana und Orel Mangala bei den Belgiern an den Tag legten. „Heute hat man gemerkt, dass wir noch nicht auf internationalem Top-Niveau sind“, gab Kapitän Kimmich ehrlich zu.

Kai Havertz ist aktuell der einzige deutsche Nationalspieler, der internationalen Ansprüchen genügt.
Kai Havertz ist aktuell der einzige deutsche Nationalspieler, der internationalen Ansprüchen genügt. © dpa

Flick sollte sich nach den acht Experimentiertagen von Frankfurt, Mainz und Köln schnell darüber klar werden, mir welcher Achse er sich für das geplante Sommermärchen 2024 einspielen will. Die Gewinner dieser Woche waren vor allem die, die nicht dabei waren. Debütanten wie Kevin Schade (FC Brentford) oder Felix Nmecha (VfL Wolfsburg) zeigten zwar vielversprechende Ansätze. Wenn Jamal Musiala, Karim Adeyemi oder auch Sané wieder dabei sind, dürften die beiden aber keine große Rolle mehr spielen.

Niclas Füllkrug kann ein Anführer beim DFB werden

Festgespielt hat sich in der vergangenen Woche lediglich Niclas Füllkrug. Der Bremer ist zwar nicht der Mittelstürmer der Kategorie Weltklasse, wie sie Deutschland in der Vergangenheit schon so viele hatte. Aber er könnte mit seiner Art einer der Anführer des kommenden Jahres werden. Mit welch einer Lockerheit der 30-Jährige trotz des 2:3 in der Mixed Zone Optimismus verbreitete („Ich habe viel Gutes gesehen“), solle als Vorbild gelten für junge Spieler wie Vagnoman, die nicht nur auf dem Platz noch viel lernen müssen, wenn sie eines der Gesichter der kommenden Jahre werden wollen.