Santa Clara/Essen. Quarterback Brock Purdy von den San Francisco 49ers wurde als Mr. Irrelevant gedraftet. Nun stellt er aber Tom Brady in den Schatten.

Shawn und Carrie Purdy haben noch nicht viele Spiele der San Francisco 49ers im Stadion verfolgt. Das Ehepaar lebt in Queen Creek, einer Kleinstadt im Südwesten von Phoenix/Arizona. Für den vergangenen Sonntag hatte es sich aber doch mal vorgenommen, in die gut 1200 Kilometer entfernte Bay Area zu reisen. Die Purdys wollten unbedingt ein Heimspiel der Niners sehen. Es gab in Santa Clara ja auch einen besonderen Spieler zu bestaunen: Tom Brady, der wohl beste Quarterback in der Geschichte des American Football, war mit den Tampa Bay Buccaneers zu Gast.

Die Reise werden Shawn und Carrie nie vergessen. Aber nicht wegen Tom Brady, sondern wegen Brock Purdy, ihrem Sohn. Seit dieser Saison steht der 22-Jährige, ein Quarterback wie Brady, beim fünfmaligen Super-Bowl-Champion aus Kalifornien unter Vertag. Gekommen als Mr. Irrelevant, weil er an 262. Draft-Position und damit an letzter Stelle der Talente-Auktion gewählt wurde. Ein wenig schmeichelhafter Titel, zugegeben, aber: irrelevant, unbedeutend, überflüssig? Brock Purdy ist plötzlich San Franciscos Mr. Wichtig, der sein Team in die Play-offs führen soll. Die Purdys werden in dieser Saison ganz sicher keine Partie der 49ers mehr verpassen. Ab jetzt allerdings einzig und allein wegen Brock, versteht sich.

Beide Quarterbacks der 49ers sind verletzt

„Surreal“ nannte Brock Purdy das Aufeinandertreffen mit dem 23 Jahre älteren Brady. „Als Kind habe ich gesehen, wie er es in all den Super Bowls hinbekommen hat über die Jahre. Jetzt mit ihm abklatschen zu können, ist schon cool.“ Sätze, die sich im Falle einer Niederlage nicht so leicht sagen lassen. Aber Purdy hatte zwei Touchdown-Pässe geworfen, war zudem einmal selbst in die Endzone gelaufen und hatte großen Anteil an San Franciscos 35:7 gegen den NFL-Meister von 2021, dem neunten Sieg im 13. Saisonspiel.

Brock Purdy erhält Glückwünsche von Tom Brady.
Brock Purdy erhält Glückwünsche von Tom Brady. © Getty

Dabei kann Head Coach Kyle Shanahan die von Purdy gebotene Show nicht mal erwarten. Eigentlich ist dieser nur der dritte Spielmacher im Team. Aber weil sich zu Saisonbeginn Trey Lance den Knöchel und zuletzt Jimmy Garoppolo den Fuß gebrochen hatte, kam Purdy in der vergangenen Woche beim 33:17 über die Miami Dolphins zu den ersten Minuten (und zu zwei Touchdowns). Nun stand er gegen Tampa Bay als erster Mr. Irrelevant von Beginn an auf dem Feld. Und besiegte als erster Quarterback beim Start-Debüt sogar die Legende Brady. „Ich lüge nicht“, sagte Purdy, „dass er Respekt dafür haben musste, was ich gezeigt habe, ist atemberaubend.“ Oder wir Brady in eigenen Worten sagte: „Wirklich beeindruckender Job. Er hat eine Menge guter Bälle geworfen.“

Als College-Spieler für zu klein und schmächtig empfunden

Sollte Brock Purdy gesund bleiben und womöglich bis zum Super Bowl am 12. Februar in Phoenix zum Einsatz kommen, wird er der meistbeachtete Mr. Irrelevant der Football-Historie sein. Der frühere NFL-Profi Paul Salata hatte 1976 die Idee, diesen Titel für den letzten im Draft gepickten Spieler um eine Urlaubsreise zu ergänzen. Die ist nun Tradition, Sponsoren machen daraus ein Riesenevent: Mr. Irrelevant ist Ehrengast bei einem Spaß-Golfturnier, er kann Surf-, Segel- und Beachvolleyball-Unterricht nehmen, bekommt bei einem Bankett die Lowsman Trophy überreicht. Sie ist als Parodie zur Heisman Trophy zu verstehen, mit der der beste College-Spieler jährlich ausgezeichnet wird. Beim Heisman hält der Spieler den Football fest in der Hand, beim Lowsman lässt er ihn fallen. Das Ganze soll mit Humor gesehen, nicht mit Spott überzogen werden. „Eigentlich ist es die Feier eines Underdogs“, sagt Melanie Fitch, Tochter von Paul Salata und für die Irrelevant-Woche verantwortlich. „Er ist nicht irrelevant, weil er als Letzter gedraftet wurde, sondern weil es irrelevant ist, dass er als Letzter gedraftet wurde.“

Auch Purdy hat die Woche an der Pazifikküste im mondänen Newport Beach eher genossen als über sich ergehen lassen. Dass die NFL-Talentspäher den Quarterback der Iowa State University als zu klein (1,85 Meter), zu schmächtig (100 Kilo), zu wurfschwach für die beste Liga der Welt einstuften, ist ihm nur Ansporn. „Es hat mich nicht gekümmert, in welcher Runde und an welcher Stelle ich gepickt werde – oder vielleicht sogar gar nicht“, so Purdy. „Mir ging es nur darum, dass ich aufs Feld gehen kann und mir selbst beweisen möchte, auf diesem Level bestehen zu können.“ Diese Mentalität beeindruckt sogar San Franciscos Star-Running-Back Christian McCaffrey: „Er hat viel Selbstvertrauen – das liegt an all der Arbeit, die er investiert hat. Und offensichtlich wird er immer besser.“

Kein anderer Mr. Irrelevant zuvor ist für sein Team so schnell so bedeutend geworden. Dass Brock Purdy deshalb eine große Karriere bevorsteht, ist trotzdem nicht gewiss. Nur ein Vorgänger – Tampas Kicker Ryan Succop (39) wurde 2009 von den Kansas City Chiefs gepickt – ist über dessen vierjährigen Rookie-Vertrag hinaus noch heute in der NFL aktiv. Aber wer weiß, die New England Patriots entschieden sich 2000 ja auch erst an 199. Stelle für Tom Brady. So weit ist das nun nicht von Mr. Irrelevant entfernt.