Dortmund. Verliert die deutsche Handball-Nationalmannschaft ihren Reiz? Viele Leistungsträger bleiben dem EM-Turnier fern. Kritik wird laut.

Geärgert hat er sich nicht zum ersten Mal. Schon im Sommer, kurz nach dem Viertelfinal-K.o. bei den Olympischen Spielen in Tokio, forderte Handball-Bundestrainer Alfred Gislason mehr Lehrgänge mit der Nationalmannschaft, gar die Verkleinerung der Bundesliga. Sein Wunsch nach Veränderung verknüpfte er mit seiner persönlichen Zukunft beim Deutschen Handball-Bund (DHB). Seitdem ist sein Job, den Neuaufbau zu stemmen, nicht einfacher geworden.

Kader zu großen Teilen international unerfahren

Wie schon bei der WM Anfang des Jahres wird die DHB-Auswahl bei der EM (13. bis 30. Januar in Ungarn und in der Slowakei) auf viele ihrer Leistungsträger verzichten müssen. Nach einer ganzen Reihe von Rücktritten und Absagen war Gislason gezwungen, aus der Not eine Tugend zu machen. Gleich neun Turnier-Neulinge berief er in den vorläufigen, 19-köpfigen EM-Kader. Jung, wild – und zu großen Teilen international unerfahren.

Die Torhüter Joel Birlehm (23) und Till Klimpke (24) etwa, die noch kein großes Turnier absolviert haben. Gleiches gilt für die Rückraumspieler Luca Witzke (22), Christoph Steinert (31), Sebastian Heymann (23) und Djibril M’Bengue (29) sowie die Außen Lukas Mertens (25) und Lukas Zerbe (25). Mit Julian Köster (21) vom VfL Gummersbach nominierte Gislason einen Spieler der Zweiten Liga.

Gislason appelliert an den Kampfgeist

Sechs von ihnen hatten erst im November ihr Länderspieldebüt gegeben, Linkshänder Steinert ist noch nie für das A-Team aufgelaufen. Heymann hat zwölf und Klimpke sieben DHB-Einsätze vorzuweisen.

Er sei sicher, sagte Gislason bei der Vorstellung des Kaders, „dass wir von der ersten Sekunde an mit großem Kämpferherz auf der Platte stehen werden.“ Doch zugleich wirkte er frustriert: „Die Situation ist wie sie ist“, fügte Gislason hinzu, „wir werden versuchen, das Beste daraus zu machen.“

Neu-Kapitän Golla soll das DHB-Team führen

Die DHB-Auswahl trifft sich am Neujahrstag in Großwallstadt. Zur EM-Vorbereitung zählen noch zwei Länderspiele gegen Serbien. Die Partien finden am 7. Januar in Mannheim sowie am 9. Januar in Wetzlar statt. Gegner in der EM-Vorrunde sind dann Belarus (14. Januar), Österreich (16.) und Polen (18.).

Kreisläufer Johannes Golla (Flensburg-Handewitt) soll als neuer Kapitän der deutschen Handball-Nationalmannschaft das DHB-Team führen.
Kreisläufer Johannes Golla (Flensburg-Handewitt) soll als neuer Kapitän der deutschen Handball-Nationalmannschaft das DHB-Team führen. © afp

Führen – das wird nun die dringliche Aufgabe des neuen Kapitäns Johannes Golla vom Vizemeister SG Flensburg-Handewitt sein. Mit Torhüter Andreas Wolff, den Rückraumspielern Julius Kühn, Kai Häfner und Simon Ernst sowie Kreisläufer Jannik Kohlbacher sind noch fünf Akteure dabei, die mit der DHB-Auswahl den EM-Titel 2016 gewonnen hatten. Patrick Wiencek (32), Kreisläufer vom Rekordmeister THW Kiel und wichtigster Pfeiler im Innenblock, ist mit seinen bisher 150 Länderspielen der erfahrenste Akteur.

Vertraute Namen aber fehlen. Steffen Weinhold, Johannes Bitter und Uwe Gensheimer hatten ihre Karriere in der Nationalmannschaft bereits nach Olympia beendet. Fabian Wiede und Patrick Groetzki gaben ihren Familien den Vorrang vor der EM, Hendrik Pekeler nimmt sich eine längere Auszeit von der Nationalmannschaft. Paul Drux will endlich seine Knieverletzung auskurieren. Und Juri Knorr, der junge Spielmacher, darf nicht an dem Turnier teilnehmen, weil er nicht gegen Corona geimpft ist.

Ex-Bundestrainer Brand kritisiert Einstellung

Der Verband sieht die Absagen mittlerweile als generelles Problem. „Wir ärgern uns schon darüber, dass einige Nationalspieler ihre Karriere nicht so konstant im Nationalteam sehen wie das in anderen Nationen der Fall ist“, sagte DHB-Sportvorstand Axel Kromer. „Zum einen werden Turniere nicht besucht, zum anderen Auswahlkarrieren frühzeitig beendet, obwohl die Leistungs-Peaks im Verein häufig noch kommen. Das ist eine Sache, die uns nicht gefällt.“

Ex-Bundestrainer Heiner Brand wurde da deutlicher: „Solche Einstellungen gefallen mir nicht“, kritisierte er. „Ich muss erwarten, dass es für Jeden das unbedingte Ziel ist, in der Nationalmannschaft zu spielen.“ Frage nach bei Alfred Gislason.

Das EM-Aufgebot der deutschen Handball-Nationalmannschaft:

  • Tor: Andreas Wolff (KS Vive Kielce/POL), Joel Birlehm (SC DHfK Leipzig), Till Klimpke (HSG Wetzlar)
  • Linksaußen: Marcel Schiller (Frisch Auf Göppingen), Lukas Mertens (SC Magdeburg)
  • Rückraum links: Julius Kühn (MT Melsungen), Sebastian Heymann (Frisch Auf Göppingen), Julian Köster (VfL Gummersbach)
  • Rückraum Mitte: Philipp Weber (SC Magdeburg), Luca Witzke (SC DHfK Leipzig), Simon Ernst (SC DHfK Leipzig)
  • Rückraum rechts: Kai Häfner (MT Melsungen), Djibril M'Bengue (FC Porto/POR), Christoph Steinert (HC Erlangen)
  • Rechtsaußen: Timo Kastening (MT Melsungen), Lukas Zerbe (TBV Lemgo)
  • Kreis: Johannes Golla (SG Flensburg-Handewitt), Jannik Kohlbacher (Rhein-Neckar Löwen), Patrick Wiencek (THW Kiel)