Kopenhagen. Das Achtelfinale zwischen Spanien und Kroatien war eine Ode an den Fußball. Das Stadion feierte Sieger wie Besiegte. Die Geschichte.

Zwei Stunden nach dem Abpfiff fuhren die Mannschaftsbusse durch das Viertel am Kopenhagener Parken, und manche Menschen sprangen von ihren Restauranttischen auf, um noch einmal zu applaudieren. Gewinnern wie Besiegten. Spaniern wie Kroaten. Eine wohlige Stimmung legte sich über die Sommernacht, die Leute waren beseelt. Sie hatten ein bezauberndes Fußballspiel gesehen.

Unai Simon - nach dem Torwartfehler wurde er zum Held

Die nackten Zahlen: 5:3. Halbzeit 1:1, Stand nach 90 Minuten 3:3. Das Skript: ein grotesker Towartfehler, zwei Aufholjagden, vier psychologische Turnarounds. Anfangs waren die Spanier am Drücker, dann die Kroaten, dann wieder die Spanier, dann wieder die Kroaten, und zum Schluss wieder die Spanier. Ein Spiel, das so, so oder so ausgehen konnte; das Nobodys auf die Weltbühne hievte, Versager erfand und sie in Helden konvertierte, und das am Ende ein ganzes Stadion im Beifall vereinte.

Da war Unai Simón, der spanische Torwart, kein Star seines Fachs, sondern ein 24-jähriger von Athletic Bilbao, der vor dieser EM nicht mal Europapokal gespielt hatte. Als er in der 20. Minute nach überlegenem Beginn der Spanier einen Rückpass aus dem Mittelfeld von Pedri über den Fuß springen ließ, wirkte das wie einer dieser Fehler, der Karrieren zerstören kann. Doch Simón rehabilitierte sich, mehrfach.

Spaniens Torhüter Unai Simon leistete sich einen folgenschweren Patzer, parierte danach aber mehrfach glänzend.
Spaniens Torhüter Unai Simon leistete sich einen folgenschweren Patzer, parierte danach aber mehrfach glänzend. © afp

Er spielte weiter mutig mit dem Fuß und leitete so den Angriff zum 2:1 ein. Er parierte mehrfach glänzend, darunter entscheidend bei 3:3. „Eine Lektion für alle Mitspieler und alle Kinder, die Fußball spielen wollen“, nannte sein Trainer Luis Enrique dieses persönliche Epos. Man mag sich immer noch nicht vorstellen, was auf Simón eingeprasselt wäre, hätte er es nicht geschafft.

Da war auch Stürmer Álvaro Morata, der spanische Antiheld, der in den vergangenen Tagen vom eigenen Publikum ausgepfiffen, von manchen Medien verbal massakriert und in den sozialen Netzwerken gar bedroht worden war. Dessen Stutzen nun aber schon bald Löcher hatten, weil er in seinen furiosen Duellen mit der kroatischen Verteidigung so viel auf die Socken bekam.

Álvaro Morata traf nach Flanke von Dani Olmo

Der am Ende des Spiels 15 Kilometer gerannt war, in Worten: fünfzehn. Und der mit seinem 4:3 in der 100. Minute nicht nur das wichtigste, sondern auch das schönste aller acht Tore erzielte, als er eine Flanke von Dani Olmo mit rechts abnahm und mit links unter die Latte beförderte.

Ob er wegen dieses erlösenden Tors nach der ganzen Vorgeschichte so gerührt sei, wurde er nach Abpfiff gefragt, weil seine Augen bloß noch hypnotisch zu starren schienen. „Nein“, sagte Morata: „Ich bin tot.“

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Die Beine trugen so weit, wie einer an sein Glück glaubte. So wie Spanien nach dem 0:1 zurückkam, gelang dies den Kroaten in den letzten Minuten der regulären Spielzeit nach dem 1:3. Zu Beginn der Verlängerung hatten sie ihren Machtball, es war die Parade Simóns gegen Andrej Kramaric, und sie sorgte für den finalen Stimmungsumschwung der Partie. „Um noch mal wiederzukommen, hatten wir keine Kraft mehr“, sagte der einmal mehr grandiose Luka Modric. Mit seiner Auswechslung in der 114. Minute hisste Kroatien die weiße Flagge, der ganze Parken beklatschte ihn.

Luis Enrique ging nach dem 3:3 in die Knie

Bei dieser EM gilt es, daran sind Niederländer und Franzosen schon gescheitert, emotional so sehr auf der Höhe zu sein wie fußballerisch. Spaniens Trainer Luis Enrique scheint beides zu vereinen. Bereits als Aktiver ein Fighter, hat der ehemalige Meistertrainer des FC Barcelona „schon einige sehr intensive Spiele erlebt“, wie er erklärte: „Aber wenige wie dieses.“

Als er nach dem 3:3 am Seitenrand in die Knie ging und ausdruckslos zu Boden starrte, mochte er es verflucht haben und an seine Wechsel wenige Minuten zuvor gedacht haben, die schon etwas von voreiligem Schongang hatten. Viele, sehr viele hätten bei einer Niederlage seinen Kopf gefordert, denn er polarisiert noch mehr als sonst, seit er als erster spanischer Trainer einen Turnierkader ohne Spieler von Real Madrid nominierte.

Spaniens erster Viertelfinaleinzug seit 2012

Doch nun gewannen gerade seine umstrittensten Personalien – Simón, Morata, der brillante Teenager Pedri, der überraschend berufene Pablo Sarabia, Schütze des zwischenzeitlichen 1:1 – ein denkwürdiges Match. Und sorgten für Spaniens ersten Viertelfinaleinzug seit dem Ende des goldenen Titelzyklus zwischen 2008 und 2012.

Als in Kopenhagen abgepfiffen wurde, liefen die spanischen Ersatzspieler Arm in Arm auf den Platz, wie eine Gruppe verschworener Kinder, die diese überwiegend junge Mannschaft irgendwo auch ist. Luis Enrique schnaufte durch. Unai Simón warf sein orangenes Trikot in die spanisch-dänische Fankolonie, die ihn nach seinem Lapsus aufgemuntert hatte.

Luka Modric ging als letzter auf Ehrenrunde

Aber auch die Kroaten gingen auf Ehrenrunde. Als letzter von allen verließ Modric den Rasen an der rechten Eckfahne, wo in diesem speziellen Stadion der Kabinentrakt beginnt. Ein letztes Häuflein Fans rief seinen Namen.

Erst jetzt war sie zu Ende, die Ode an den Fußball.