Herzogenaurach. Drei Schlüsselspieler des DFB-Teams haben eine besondere Verbindung zu London. Darunter auch der zuletzt kritisierte Serge Gnabry.

Serge Gnabry musste am Montagmorgen leiden. Mit zusammengekniffenen Gesicht ließ der Stürmer von Bayern München die schmerzhafte Prozedur über sich ergehen. Neun Ohrenschnipser musste Gnabry ertragen, ehe das rituale Grauen ein jähes Ende fand und die johlende Freude seiner Mitspieler gerade erst so richtig an Fahrt aufnahm. Der Grund für Gnabrys Bestrafung im Abschlusstraining von Herzogenaurach: Beim traditionellen Kreisspiel zu Beginn der Einheit hatte der 25-Jährige am Montagmorgen gewissermaßen die Ohrenkarte gezogen. Zwei Kontakte sind erlaubt, Kopf und Oberschenkel verboten – und wer den Ball dreimal fallen lässt, wird geschnippt.

Einen Tag vor dem Spiel der Spiele im Wembley-Stadion traf es am Montag also Gnabry. Doch nicht nur für den gebürtigen Stuttgarter dürften die glühenden Ohren längst wieder vergessen sein, sollte er dafür an diesem Mittwochabend (18 Uhr/ARD) beim Blockbusterduell mit leuchtenden Augen als Gewinner vom Platz gehen.

England gegen Deutschland. In Wembley. Im Achtelfinale der Europameisterschaft. Viel mehr geht nicht.

„Ich freue mich extrem auf dieses Spiel“, sagte Gnabry kurz vor dem Abflug nach London am Montagnachmittag um 16.30 Uhr von Nürnberg. „Ich habe noch nie im Wembley gespielt – entsprechend groß ist die Vorfreude bei mir.“

Serge Gnabry wurde vom FC Arsenal ausgebildet

Gnabrys Aussage überrascht insofern, als dass er zu der Fraktion „London-Intimkenner“ in der Nationalmannschaft gehört. Fünf Jahre lang wurde das „Next German Wunderkind“, so sein damaliger Spitzname, vom FC Arsenal ausgebildet. Doch auch als der Gunner 2016 von der Insel zurück nach Festland-Europa wechselte, blieb sich Gnabry in seiner London-Liebe treu. Zweimal (gegen Tottenham und Chelsea) spielte er mit den Bayern in Englands Metropole in der Champions League und erzielte dabei beeindruckende sechs Treffer.

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Bei der EURO 2020 wartet der frühere Wahl-Londoner dagegen noch immer auf seinen ersten Treffer. Nach dem enttäuschenden Ungarnspiel (2:2) wurden sogar Stimmen laut, die den schwachen Gnabry eine Schöpfungspause einräumen wollten. Doch Bundestrainer Joachim Löw ist auch ohne Schnipser auf dem Gnabry-Kritik-Ohr taub: „Gnabry spielt immer“, ist sein Credo, dem er auch im Achtelfinale treu bleiben wird.

Für Löw ist Gnabry (16 Tore in 25 Länderspielen) längst zu einem Säulenspieler geworden – genauso wie mittlerweile auch die beiden anderen Londoner Antonio Rüdiger und Kai Havertz. Rüdiger, der seine Grippe überstanden hat, ist als kompromissloser Türsteher in der hintersten Linie genauso gesetzt wie Freigeist Havertz im offensiven Mittelfeld. Beide haben mit dem FC Chelsea erst kürzlich – gemeinsam mit Stürmer Timo Werner – die Champions League (gegen Manchester City) gewonnen.

DFB-Team: Viele England-Legionäre und Ex-Engländer

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Wer sich den deutschen Kader genauer anschaut, der findet noch eine ganze Reihe weiterer England-Legionäre (Bernd Leno, Ilkay Gündogan, Robin Koch) oder Ex-Engländer (Jamal Musiala, Leroy Sané, Emre Can). Doch keiner von ihnen dürfte sich im ähnlichen Maße wie Gnabry, Havertz und Rüdiger am Dienstagabend auf dem Spielfeld genauso gut zurecht finden wie bei einer späteren Stadtrundfahrt zwischen Trafalgar Square, Oxford Street, Tower Bridge und Buckingham Palace.

Doch Gnabry, Havertz und Rüdiger können London natürlich nicht als ihr exklusives Zuhause beanspruchen, in dem idealerweise an diesem Abend eine große Party gefeiert werden soll. Wenn Wimbledon Boris Beckers kleines aber feines Wohnzimmer ist, dann ist Wembley eine Art deutsches XL-Wohnzimmer der ganzen Nation. Die glorreichen Geschichten wurden in den vergangenen Tagen rauf und runter erzählt: 1996, das Elfmeterschießen im EM-Halbfinale, „Gareth Southgate, the whole of England is with you“, Andreas Möller. Dann das Finale, der goldene Schuss von Oliver Bierhoff und ein tanzender Berti Vogts. Und natürlich das WM-Finale 1966. Ein Schuss, ein Tor, das doch eigentlich gar kein Tor war. Oder 2000. Didi Hamann. Das letzte Tor im alten Wembley.

Kai Havertz (l.) und Antonio Rüdiger spielen für den FC Chelsea.
Kai Havertz (l.) und Antonio Rüdiger spielen für den FC Chelsea. © Getty

Doch all das: nette Anekdoten von anno dazumal. Im Hier und Jetzt gilt es, ein neues Kapitel deutscher Fußballgeschichte zu schreiben. „Ich hoffe, dass ich an diesem Dienstag zum England-Schreck werde“, sagt Havertz, der immerhin schon zwei EM-Tore erzielen konnte. „Es ist ein besonderes Spiel – für mich, für die Fans, für uns alle.

Und sollte die Party im Wohnzimmer der Nation durch aufmüpfige Engländer gestört werden, hat Löw auch noch einen echten Wembley-Joker im Ärmel: Musiala, Jamal. Seit Tagen kursiert ein sieben Jahre altes Video im Netz, das das DFB-Nesthäkchen bei seinem ersten Wembley-Erlebnis zeigt. Kurz bevor Toni Kroos, Mats Hummels und Thomas Müller in Brasilien Weltmeister wurden, spielte der damals elfjährige Bubi im Einlagespiel des League-II-Playoff-Finales in der Kathedrale des Weltfußballs groß auf. Mit der Corpus Christi Primary School gewann Musiala 7:1 gegen die Hamilton Primary School – und erzielte dabei vier Wembley-Tore.

Musiala bereitete das 2:2 gegen Ungarn vor

„Wenn du elf Jahre alt bist, kommt dir jedes Stadion riesig vor, aber Wembley ist auch heute noch für jeden außergewöhnlich. Ich erinnere mich noch, wie perfekt der Rasen war“, sagt Musiala, der bereits gegen Ungarn jeden Quadratmeter Rasen in München perfekt nutzte. Das 2:2 durch Goretzka legte der eingewechselte Musiala nach einer schönen Einzelaktion vor. Und auch an das magische Stadion mit seinem 133 Meter hohen Bogen hat er ausschließlich gute Erinnerungen: „Ich habe sogar zweimal in Wembley gespielt, beide Male mit der Auswahl meiner Primary School. Wir haben beide Spiele gewonnen – und ich hoffe, jetzt folgt der nächste Sieg.“

Der Arbeitsauftrag für das deutsche Team an diesem Dienstagabend ist also klar: gewinnen, Geschichte schreiben und ins Viertelfinale gegen Schweden oder die Ukraine in der ewigen Stadt einziehen. Denn entgegen anderslautender Floskeln lautet das Motto des Abends in London: Nur ein Weg führt nach Rom.